Bescheidenheit

Die Wiederentdeckung der Mäßigung

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Eine getrocknete Pflanze mit Samen liegt in der Hand einer Person.
Genügsam und anspruchslos: Was bedeutet Bescheidenheit? © unsplash / Syd Wachs
Catherine Newmark im Gespräch mit Susanne Balthasar |
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In den Monaten der Pandemie hat die Bescheidenheit eine Renaissance erlebt. Hinter dieser alten Tugend steckt das antike Ideal der Mäßigung und das Ziel, so die Kontrolle zu behalten, erklärt Philosophieredakteurin Catherine Newmark.
In den vergangenen Monaten hieß es oft, dass uns die Pandemie die Bescheidenheit neu gelehrt hat. Mit sinkenden Inzidenzen steht die Gesellschaft nun wieder an der Schwelle zur sogenannten Normalität. Was bleibt also von der eigentlich unfreiwilligen Bescheidenheit und welche Idee steht hinter dieser traditionellen Tugend?
Bedürfnislosigkeit als ethisches Ziel existiere bereits seit der Antike, sagt Catherine Newmark. "Das findet man auch bei Aristoteles, Platon und dann natürlich noch viel stärker bei den Stoikern oder den Epikureern", so die Philosophieredakteurin. "Also die Idee des Maßhaltens, dass man die Dinge möglichst so gestaltet, dass man sie selbst in der Hand hat."

"Kontrolle über das eigene Leben"

Wenn man sich selbst diese Maßhaltung auferlegt und seine Bedürfnisse kleinhält, dann habe man mehr Kontrolle. "Kontrolle über das eigene Leben ist etwas, was Philosophen ganz oft ganz wichtig ist." Konkret bedeutete das zum Beispiel, dass man, um es mit heutigen Worten zu sagen, sehr wenig konsumiert hat, erklärt Newmark.
Später im Mittelalter bei Thomas von Aquin habe man die Mäßigung zu einer Kardinaltugend erhoben. Im 18. Jahrhundert versuchte dann das Bürgertum, sich mit Zurückhaltung vom Adel abzugrenzen, indem man gesagt habe: "Wir sind eben nicht ausschweifend, emotional, laut und farbenprächtig, sondern wir sind in uns gekehrt und haben unsere Bedürfnisse auch selbst in Griff." Die heutige Idee der Bescheidenheit, bewege sich zwischen diesen beiden historisch gesetzten Polen der antiken Mäßigung und der bürgerlichen Zurückhaltung, so Newmark.

Eine Baustelle des Feminismus

Die bürgerlichen Ideale, die erst mal für die Männer galten, seien im Lauf der Zeit stark auch auf die Frauen zugespitzt worden. "Bei der weiblichen Bescheidenheit geht es oft auch um so etwas wie sexuelle Zurückhaltung", erklärt Newmark.
In einer Art von "patriarchaler Scheinheiligkeit" habe man die ganze Verantwortung für die Züchtigkeit und Sittlichkeit den Frauen aufbürdet. "Das ist tatsächlich etwas, was bis heute relevant ist", so Newmark. "Das ist eine Baustelle, an der Feministinnen, glaube ich, immer noch arbeiten."
In der heutigen Gesellschaft, in der Selbstoptimierung und vor allem eine Logik der Selbstvermarktung dominieren, könne man Bescheidenheit in dem Sinne sowieso nicht mehr als Tugend betrachten, meint Newmark. "Sie bringt einen nicht vorwärts." Man müsse möglichst oft und laut seine eigene Kompetenz präsentieren.
"Das heißt nicht unbedingt, dass Bescheidenheit ein Problem ist, sondern vielleicht eher, dass der gesamte mentale Kontext, in dem wir unsere Welt im Moment denken, auch durchaus problematisch ist. Wenn es dann vor allem darum geht, dass man diesen äußerlichen Schein so stark machen muss", sagt Newmark.

Mit Bescheidenheit aus der Klimakrise?

Könnte in der Klimakrise, in der es auch darum geht, sich zu beschränken, weniger zu konsumieren sowie weniger Ressourcen zu verbrauchen, die Bescheidenheit ein neues Schlüsselwort werden? "Es ist tatsächlich eine Tendenz da, dass wir diese Schubumkehr zu leisten haben", findet Newmark. Es sei kein Zufall, dass sich gerade in der Klimabewegung die jungen Leute tatsächlich auch mit antiken Philosophen, dem Ideal der Mäßigung und mit der Frage auseinandersetzten, ob Konsum und ständiges Wachstum, das letztlich den Planeten zerstöre, uns glücklich machten.
"Wir haben sehr viele empirische Studien, aber es leuchtet auch unmittelbar ein, dass das nicht unbedingt zum Glück führt", so Newmark. Man besinne sich nun auf eine neue Art von Zurückhaltung und Bescheidenheit. "Das ist tatsächlich, glaube ich, ein fundamentaler mentaler Wandel, der noch überhaupt nicht abgeschlossen ist."
(hum)
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