Beschneidungsdebatte ist nicht "neurotisch"
Wie sind die Rechte auf Religionsfreiheit und körperliche Unversehrtheit bei der Beschneidung in Einklang zu bringen? Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik meint, dass bei positiver Religionsfreiheit der Eingriff an Knaben, die nicht älter als acht Tage sind, unter lokaler Betäubung vorgenommen werden müsse.
Ayala Goldmann: "Nichts, kein Terroranschlag, kein Euro, kein Hunger und kein Krieg, erregt die Deutschen so sehr wie die Vorhaut." So mokierte sich der Kolumnist Harald Martenstein im Berliner "Tagesspiegel" über die aktuelle Debatte zur Penisbeschneidung. In der Tat gab es kaum ein Thema, das diesen Sommer emotionaler diskutiert worden wäre, seitdem das Kölner Landgericht die Beschneidung von Jungen für illegal erklärt hat.
Am vergangenen Donnerstag nun hat der Bundestag eine Resolution verabschiedet: Eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen - ohne unnötige Schmerzen - soll demnach grundsätzlich erlaubt sein. Doch auch nach diesem Beschluss ist die Diskussion nicht abgeflaut.
Denn noch steht eine gesetzliche Regelung aus - und es ist auch nicht sicher, ob sie überhaupt zustande kommt. In Deutschland drohe ein "Kulturkampf von äußerster Härte" - so warnte Micha Brumlik, Professor für Erziehungswissenschaften, in der "Frankfurter Rundschau" - und nannte die Beschneidung ein "Zeichen jüdischer Selbstbehauptung". Ich habe vor Beginn der Sendung mit Micha Brumlik gesprochen und ihn nach seiner Einschätzung der aktuellen Diskussion gefragt.
Herr Brumlik, das Recht auf Religionsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit sind beide im Grundgesetz verankert. Wie könnte Ihrer Meinung nach eine Regelung aussehen, die beide Grundrechte miteinander in Einklang bringt?
Micha Brumlik: Indem man feststellt, dass die positive Religionsfreiheit bei einem ärztlich qualifiziert vorgenommenen Eingriff an Knaben, die nicht älter als acht Tage sind, unter lokaler Betäubung vorgenommen wird, und die traditionellen Beschneider, die Mohalim, nachweisen müssen, dass sie medizinisch qualifiziert sind.
Goldmann: Sie sagen, nicht älter als acht Tage. Das heißt, diese Regelung würde dann aber nur den Juden entgegenkommen, nicht den Moslems?
Brumlik: Das ist die Regelung für die Juden, für die jüdische Gemeinschaft, aus deren Perspektive ich hier spreche. Ich vermag nicht zu sagen, wie eine Regelung in den muslimischen Gemeinschaften aussehen kann.
Goldmann: Die Debatte um die Vorhaut trägt zumindest nach Ansicht von Harald Martenstein auch neurotische Züge. Sehen Sie das ähnlich?
Brumlik: Ich halte das nicht für neurotisch, aber ich halte es für in einem hohen Maß für außerordentlich selbstgerecht, wie sich nun selbst ernannte Advokatoren für Kinderrechte aufwerfen - Leute, von denen ich, was die sonstigen Schwierigkeiten, Probleme und das Leiden von Kindern gar nicht auf der ganzen Welt, sondern in Deutschland angeht, noch nie etwas gehört haben.
In Deutschland leben 20 Prozent aller Kinder unter sehr ärmlichen Verhältnissen, haben ganz erhebliche Beeinträchtigungen von zuhause und in der Schule. Diese Advokaten der Kinderrechte haben sich um dieses Thema bisher noch nie gekümmert. Darüber hinaus fällt mir auf, dass diese Advokaten des Kinderrechts im Endeffekt, wenn sie Recht bekommen, es bewirken werden, dass es in Deutschland kein orthodoxes Judentum mehr geben wird und mehr geben kann. Und das gerade einmal 70 Jahre nach dem Ende des Holocaust. Ich fürchte, dass diese Vertreter der Kinderrechte dieses nicht bedacht haben.
Goldmann: Orthodoxe Rabbiner haben das Urteil des Kölner Landgerichts als "schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust" bezeichnet. Finden Sie das zutreffend - oder übertrieben?
Brumlik: Wenn man unter jüdischem Leben die ungestörte Ausübung der jüdischen Religion versteht, stimmt das. Das ist keine judenfeindliche, aber eine judentumsfeindliche Kampagne, die hier gefahren wird.
Goldmann: Wir haben jetzt über orthodoxe Juden gesprochen. Warum aber ist die Brit Mila, der Bund der Beschneidung, aber auch für nichtreligiöse oder liberale Juden wichtig?
Brumlik: Für viele nichtreligiöse oder liberale Juden ist das ein Zeichen der Selbstbehauptung nach jener Katastrophe, die ich eben genannt habe, nach der Schoa. Mindestens aus den USA wissen wir, dass sehr viele säkulare Juden die Beschneidung gleichsam als Zeichen des Trotzes, als Zeichen des "wir sind immer noch da, und zwar so, wie wir leben wollen" dieses Ritual demnach vollziehen.
Goldmann: Aber wie viele Juden in Deutschland sind eigentlich beschnitten? Die meisten der gut 100.000 Mitglieder jüdischer Gemeinden stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Und dort haben sich aber nur wenige Eltern für die Beschneidung entschieden - viele wollten nicht, dass ihre Söhne antisemitischen Vorurteilen zum Opfer fallen. Kämpfen Rabbiner in Deutschland also für einen Brauch, den viele Juden hierzulande gar nicht befolgen?
Brumlik: Ich glaube, dass das für einen großen Teil der Generation, die noch als Kind in der Sowjetunion geboren worden sind, zutrifft. Aber wir wollen noch einmal sehen: Wenn diese jüdischen Männer nun in Deutschland bleiben und gegebenenfalls auch jüdische Frauen heiraten und Kinder zeugen, ob sie ihre Knaben, sofern sie Mitglieder einer jüdischen Gemeinde sind, nicht auch beschneiden lassen werden.
Goldmann: In Israel gibt es eine Bewegung, die sich "Ben Schalem" nennt - auf Deutsch heißt das "der vollständige Sohn". Diese Juden lehnen die Brit Mila, die Beschneidung ab; sie sagen, sie sei antiquiert, überflüssig. Können Sie diesen Standpunkt nachvollziehen?
Brumlik: Ich kann diesen Standpunkt nachvollziehen. Zumal diese Debatte bereits vor 150 Jahren in den Kreisen vor allem des deutschen Reformjudentums ebenfalls geführt worden ist. Der allergrößte Teil des Reformjudentums hat sich aber für die Beibehaltung der Beschneidung entschieden. In Israel sehe ich diese Bewegung als Ausdruck einer tiefen antiklerikalen Strömung, der die Übermacht der religiösen Parteien in Israel erheblich auf die Nerven geht.
Goldmann: Könnte die Resolution im Bundestag auch dazu führen, dass es eine intern- jüdische Debatte über die Beschneidung gibt? Ich zumindest kenne immer mehr Juden, die nicht zu einem traditionellen Mohel, einem Beschneider gehen wollen, sondern diesen Akt bei ihrem acht Tage alten Sohn nur von einem Arzt und nur unter örtlicher Betäubung durchführen lassen. Was würden Sie tun, wenn Sie jetzt Vater würden und vor der Entscheidung stünden?
Brumlik: Also, ich würde einen medizinisch qualifizierten Eingriff vorziehen. Würde dann aber versuchen - aber wie gesagt, es geht wirklich um den achten Tag, eine symbolische Form, verbunden mit der Namensgebung, zu vollziehen.
Goldmann: Ich würde gerne noch einmal auf die Moslems zurückkommen. Die Juden haben ja durch diese Resolution im Bundestag einen gewissen Erfolg erzielt. Glauben Sie, dass Juden und Moslems an einem Strang ziehen sollten, um eine gesetzliche Regelung zu erwirken, oder kämpft eigentlich im Grunde jede Religionsgemeinschaft hier für sich?
Brumlik: Ich glaube, dass letzen Endes hier zwei unterschiedliche Religionsgemeinschaften unterschiedliche Agenden haben. Und ich glaube in der Tat, dass der Druck auf die unterschiedlichsten islamischen Gemeinschaften größer ist, da die nun in der Tat, nach dem, was ich gelesen habe, ihre Söhne öfters in einem Alter beschneiden lassen, in dem diese Kinder noch unter 14, also noch nicht religionsmündig, aber doch deutlich empfindlicher und womöglicherweise auch schmerzbereiter sind, als das bei einem acht Tage alten Knaben der Fall ist.
Goldmann: Micha Brumlik war das, Professor für Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Am vergangenen Donnerstag nun hat der Bundestag eine Resolution verabschiedet: Eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen - ohne unnötige Schmerzen - soll demnach grundsätzlich erlaubt sein. Doch auch nach diesem Beschluss ist die Diskussion nicht abgeflaut.
Denn noch steht eine gesetzliche Regelung aus - und es ist auch nicht sicher, ob sie überhaupt zustande kommt. In Deutschland drohe ein "Kulturkampf von äußerster Härte" - so warnte Micha Brumlik, Professor für Erziehungswissenschaften, in der "Frankfurter Rundschau" - und nannte die Beschneidung ein "Zeichen jüdischer Selbstbehauptung". Ich habe vor Beginn der Sendung mit Micha Brumlik gesprochen und ihn nach seiner Einschätzung der aktuellen Diskussion gefragt.
Herr Brumlik, das Recht auf Religionsfreiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit sind beide im Grundgesetz verankert. Wie könnte Ihrer Meinung nach eine Regelung aussehen, die beide Grundrechte miteinander in Einklang bringt?
Micha Brumlik: Indem man feststellt, dass die positive Religionsfreiheit bei einem ärztlich qualifiziert vorgenommenen Eingriff an Knaben, die nicht älter als acht Tage sind, unter lokaler Betäubung vorgenommen wird, und die traditionellen Beschneider, die Mohalim, nachweisen müssen, dass sie medizinisch qualifiziert sind.
Goldmann: Sie sagen, nicht älter als acht Tage. Das heißt, diese Regelung würde dann aber nur den Juden entgegenkommen, nicht den Moslems?
Brumlik: Das ist die Regelung für die Juden, für die jüdische Gemeinschaft, aus deren Perspektive ich hier spreche. Ich vermag nicht zu sagen, wie eine Regelung in den muslimischen Gemeinschaften aussehen kann.
Goldmann: Die Debatte um die Vorhaut trägt zumindest nach Ansicht von Harald Martenstein auch neurotische Züge. Sehen Sie das ähnlich?
Brumlik: Ich halte das nicht für neurotisch, aber ich halte es für in einem hohen Maß für außerordentlich selbstgerecht, wie sich nun selbst ernannte Advokatoren für Kinderrechte aufwerfen - Leute, von denen ich, was die sonstigen Schwierigkeiten, Probleme und das Leiden von Kindern gar nicht auf der ganzen Welt, sondern in Deutschland angeht, noch nie etwas gehört haben.
In Deutschland leben 20 Prozent aller Kinder unter sehr ärmlichen Verhältnissen, haben ganz erhebliche Beeinträchtigungen von zuhause und in der Schule. Diese Advokaten der Kinderrechte haben sich um dieses Thema bisher noch nie gekümmert. Darüber hinaus fällt mir auf, dass diese Advokaten des Kinderrechts im Endeffekt, wenn sie Recht bekommen, es bewirken werden, dass es in Deutschland kein orthodoxes Judentum mehr geben wird und mehr geben kann. Und das gerade einmal 70 Jahre nach dem Ende des Holocaust. Ich fürchte, dass diese Vertreter der Kinderrechte dieses nicht bedacht haben.
Goldmann: Orthodoxe Rabbiner haben das Urteil des Kölner Landgerichts als "schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust" bezeichnet. Finden Sie das zutreffend - oder übertrieben?
Brumlik: Wenn man unter jüdischem Leben die ungestörte Ausübung der jüdischen Religion versteht, stimmt das. Das ist keine judenfeindliche, aber eine judentumsfeindliche Kampagne, die hier gefahren wird.
Goldmann: Wir haben jetzt über orthodoxe Juden gesprochen. Warum aber ist die Brit Mila, der Bund der Beschneidung, aber auch für nichtreligiöse oder liberale Juden wichtig?
Brumlik: Für viele nichtreligiöse oder liberale Juden ist das ein Zeichen der Selbstbehauptung nach jener Katastrophe, die ich eben genannt habe, nach der Schoa. Mindestens aus den USA wissen wir, dass sehr viele säkulare Juden die Beschneidung gleichsam als Zeichen des Trotzes, als Zeichen des "wir sind immer noch da, und zwar so, wie wir leben wollen" dieses Ritual demnach vollziehen.
Goldmann: Aber wie viele Juden in Deutschland sind eigentlich beschnitten? Die meisten der gut 100.000 Mitglieder jüdischer Gemeinden stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Und dort haben sich aber nur wenige Eltern für die Beschneidung entschieden - viele wollten nicht, dass ihre Söhne antisemitischen Vorurteilen zum Opfer fallen. Kämpfen Rabbiner in Deutschland also für einen Brauch, den viele Juden hierzulande gar nicht befolgen?
Brumlik: Ich glaube, dass das für einen großen Teil der Generation, die noch als Kind in der Sowjetunion geboren worden sind, zutrifft. Aber wir wollen noch einmal sehen: Wenn diese jüdischen Männer nun in Deutschland bleiben und gegebenenfalls auch jüdische Frauen heiraten und Kinder zeugen, ob sie ihre Knaben, sofern sie Mitglieder einer jüdischen Gemeinde sind, nicht auch beschneiden lassen werden.
Goldmann: In Israel gibt es eine Bewegung, die sich "Ben Schalem" nennt - auf Deutsch heißt das "der vollständige Sohn". Diese Juden lehnen die Brit Mila, die Beschneidung ab; sie sagen, sie sei antiquiert, überflüssig. Können Sie diesen Standpunkt nachvollziehen?
Brumlik: Ich kann diesen Standpunkt nachvollziehen. Zumal diese Debatte bereits vor 150 Jahren in den Kreisen vor allem des deutschen Reformjudentums ebenfalls geführt worden ist. Der allergrößte Teil des Reformjudentums hat sich aber für die Beibehaltung der Beschneidung entschieden. In Israel sehe ich diese Bewegung als Ausdruck einer tiefen antiklerikalen Strömung, der die Übermacht der religiösen Parteien in Israel erheblich auf die Nerven geht.
Goldmann: Könnte die Resolution im Bundestag auch dazu führen, dass es eine intern- jüdische Debatte über die Beschneidung gibt? Ich zumindest kenne immer mehr Juden, die nicht zu einem traditionellen Mohel, einem Beschneider gehen wollen, sondern diesen Akt bei ihrem acht Tage alten Sohn nur von einem Arzt und nur unter örtlicher Betäubung durchführen lassen. Was würden Sie tun, wenn Sie jetzt Vater würden und vor der Entscheidung stünden?
Brumlik: Also, ich würde einen medizinisch qualifizierten Eingriff vorziehen. Würde dann aber versuchen - aber wie gesagt, es geht wirklich um den achten Tag, eine symbolische Form, verbunden mit der Namensgebung, zu vollziehen.
Goldmann: Ich würde gerne noch einmal auf die Moslems zurückkommen. Die Juden haben ja durch diese Resolution im Bundestag einen gewissen Erfolg erzielt. Glauben Sie, dass Juden und Moslems an einem Strang ziehen sollten, um eine gesetzliche Regelung zu erwirken, oder kämpft eigentlich im Grunde jede Religionsgemeinschaft hier für sich?
Brumlik: Ich glaube, dass letzen Endes hier zwei unterschiedliche Religionsgemeinschaften unterschiedliche Agenden haben. Und ich glaube in der Tat, dass der Druck auf die unterschiedlichsten islamischen Gemeinschaften größer ist, da die nun in der Tat, nach dem, was ich gelesen habe, ihre Söhne öfters in einem Alter beschneiden lassen, in dem diese Kinder noch unter 14, also noch nicht religionsmündig, aber doch deutlich empfindlicher und womöglicherweise auch schmerzbereiter sind, als das bei einem acht Tage alten Knaben der Fall ist.
Goldmann: Micha Brumlik war das, Professor für Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.