Beschnittener Respekt

Von Richard Szklorz · 26.07.2012
Nach dem gerichtlichen Verbot der Beschneidung scheinen Juden in der öffentlichen Wahrnehmung da angekommen zu sein, wo sie real schon immer waren: in der Position einer fremden Minderheit, an der man sich nach Bedarf auch mal vergreifen kann, meint Richard Szklorz.
"Was scheren mich religiöse Gefühle und alte Traditionen von Muslimen und Juden!" Frei nach diesem Motto bringen einige sich berufen fühlende Psychologen, Psychoanalytiker und Juristen mit erstaunlichem Eifer eine Agenda vor, die sie lang hegten, die bislang aber nur in Fachkreisen Beachtung fand: die Agenda vom Skandal ritueller Beschneidungen bei muslimischen und jüdischen Knaben.

So einen voyeuristischen Blick auf einen zweifellos empfindlichen Körperteil, so eine zur Schau gestellte Sorge um das Wohlergehen der betroffenen Kinder hat das Land noch nicht erlebt.

So wird allen Ernstes vorgeschlagen, Juden und Muslime könnten es mit einem symbolischen Ersatzritual bewenden lassen, um später eine Beschneidung im Erwachsenenalter folgen zu lassen. Die Beschneidung würde zu deutlich die religiöse Bindung des Kindes vorbestimmen und es damit in seiner freien Entwicklung behindern. Das ist, als wollte man Katholiken die Kindstaufe verbieten.

Wie oft muss darauf hingewiesen werden, dass bei den Juden die Beschneidung Konsens ist, von der Orthodoxie über die Reformer bis hin zu den Säkularen? Und dass es bei den Muslimen nicht viel anders ist!

Die logische Konsequenz aus dieser Erkenntnis wäre, dies zu tolerieren und beide Gemeinschaften in Ruhe zu lassen, statt muslimische und jüdische Eltern der Verdächtigung auszusetzen, ihre erzieherische Kompetenz und religiöse Verwurzelung sei unterentwickelt und archaisch.

Mit genüsslicher Freude an der Einmischung verweisen viele Anhänger des Kölner Urteils medienwirksam auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Kindes. Mal mit dem Gestus der Herablassung, anderswo im Stil von geduldigen Pädagogen, malen sie den inkriminierten Vorgang in den blutigsten Farben aus, ja setzen ihn fälschlicherweise sogar mit der Genitalverstümmelung bei Mädchen gleich.

Dabei sind sie als Akademiker ausreichend informiert und müssten wissen, was ihr Ansinnen in letzter Konsequenz bedeutet: die Aufforderung an beide Religionsgemeinschaften, sich selbst zu verleugnen oder Deutschland zu verlassen.

Für die Muslime bedeutet der Rummel um das Kölner Gerichtsurteil keine gänzlich neue Situation. Nachdem sie über zwei Generationen hinweg meistens ignoriert wurden, sind sie in letzter Zeit - häufig ungefragt - in den Fokus integrationspolitischer Fürsorglichkeit der Medien, Behörden, der Politik geraten.

Etwas anders ist es bei Juden. Lange wurden sie als eine in Deutschland alteingesessene Religion und Tradition geführt.

Nun also das böse Erwachen. Mit einem rechtskräftigen Gerichtsurteil und mit Kritikern im Nacken, die den Juden erklären, wie sie ihre Religion humanisieren sollen, Kritiker, die lustvoll Tabubruch begehen, vor dem sie gestern noch zurückgeschreckt wären. Eine wissenschaftlich daherkommende Anmaßung, die den Schutz jüdischer Kinder vor ihren Eltern einfordert und gleichzeitig den Vorwurf der Judenfeindlichkeit abwimmelt. Die Anmaßung trifft Juden mitten ins Herz.

Juden scheinen in der öffentlichen Wahrnehmung da angekommen zu sein, wo sie real schon immer waren: in der Position einer fremden Minderheit, an der man sich nach Bedarf auch mal vergreifen kann.

Ein günstiger Moment eigentlich, um nicht mehr auf das scheinheilige Gerede vom "christlich-jüdischen Fundament unserer Zivilisation" zu hören, das der Ausgrenzung der Muslime diente. Und ein guter Augenblick, mit den vernünftigen Strömungen des deutschen Islams Bündnisse zu suchen. Um gemeinsam auch mit ihnen in Deutschland jenen Respekt vor dem Anderssein einzufordern, der manchem der geschichtsvergessenen Kritiker völlig abhanden gekommen ist.

Richard Szklorz, geboren und aufgewachsen in der Nachkriegs-Tschechoslowakei, studierte an der Universität Tübingen und an der Freien Universität Berlin. Lange lebte er in London, Jerusalem und New York, wovon die New Yorker Zeit beinahe seine zweite Auswanderung wurde. Nach der Wende bereiste Szklorz als Redakteur der Wochenzeitung "Freitag" zum ersten Mal wieder sein Geburtsland und andere ostmitteleuropäische Staaten. Inzwischen lebt er in Berlin.

Seit Mitte der 1990er-Jahre arbeitet Szklorz als freier Journalist für Zeitungen und Rundfunkanstalten. Er ist Autor zahlreicher Glossen über den deutschen Alltag sowie von Kommentaren, Rezensionen und Berichten aus der jüdischen und jüdisch-deutschen Welt.


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Szklorz, Richard
Richard Szklorz© privat
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