Volk an Führung
Der Politikwissenschaftler Siegfried Suckut hat Briefe von DDR-Bürgern an die Staatsführung gesammelt und als Buch herausgebracht. Vor allem sei es darin um die Mangelwirtschaft in der DDR und die deutsche Teilung gegangen, sagt der Autor.
Dass viele DDR-Bürger mit ihrer politischen Führung unzufrieden waren, ist hinlänglich bekannt. Weniger bekannt ist dagegen, dass viele ihrem Unmut auch Luft machten, indem sie Briefe an die Staatsführung schrieben. Der Politikwissenschaftler Siegfried Suckut hat diese Briefe im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde gefunden und darüber ein Buch geschrieben: "Volkes Stimmen. "Ehrlich, aber deutlich". Privatbriefe an die DDR-Regierung".
Es handele sich bei diesen Briefen um "politische Beschwerdebriefe in sehr unterschiedlicher Tonlage", sagt der Autor. Sie reichten von drastisch formulierter Fundamentalkritik am Staat bis hin zu Briefen von Parteimitgliedern, "die über die Lage im Lande enttäuscht waren und die auch der Regierung so ein bisschen helfen wollten, die Wähler zu erkennen, weil sehr viele glaubten, Ulbricht oder Honecker, die sind doch von ihren unteren Funktionären durchweg fehlinformiert". Hauptthemen der Briefe seien die Mangelwirtschaft in der DDR gewesen und die deutsch-deutsche Teilung
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Wenn nichts mehr ging in der DDR, was tat man dann? Man schrieb einen Brief. Der hieß natürlich nicht Brief, sondern Eingabe, und je höher der Adressat, desto größer, so hoffte man wenigstens, waren die Chancen, dass sich dann tatsächlich etwas tat. Aber was waren das für Themen, die die Leute in der DDR so sehr bewegten, dass sie dafür an Partei und Regierung schrieben? Derlei Fragen kann Siegfried Suckut beantworten. Der Politologe gehörte 1992 zu den Mitbegründern der Abteilung Bildung und Forschung in der Stasiunterlagenbehörde und war viele Jahre deren Leiter. Sein morgen erscheinendes Buch über diese besondere Briefkultur, heißt "Volkes Stimmen. "Ehrlich, aber deutlich". Privatbriefe an die DDR-Regierung". Und damit Sie sich vorstellen können, wie sich das anhörte, hier ein paar Beispiele:
"Sie müssen doch blödsinnige Angst haben, dass Sie uns nicht nach dem Westen reisen lassen. So erziehen Sie sich keine Freunde. Die Beschneidung der Freizügigkeit ist die größte Dummheit und zeigt so recht Ihre Verblödung. Man kann doch schließlich sich aufhalten und arbeiten, wo man will. Sie haben die DDR zum KZ gemacht."
"Der größte Scheißstaat auf der Erde"
"Die DDR ist der größte Scheißstaat auf der ganzen Erde. Euch Schweine an der Spitze müsste man alle einzeln aufhängen, mit dem Kopf nach unten, und euch durchpeitschen. Haltet ihr denn die Bevölkerung wirklich für so doof, das sie euch alles glaubt, eure sogenannten Fortschritte in den letzten 30 Jahren? Wann geschieht endlich was? Reformen, Ehrlichkeit, Meinungsfreiheit, Reisemöglichkeiten und freie Wahlen. So denkt das Volk."
von Billerbeck: Auszüge aus Briefen an die DDR-Regierung, in einem Buch zusammengetragen von dem Politologen Siegfried Suckut, bis 2005 leitete er die Abteilung Bildung und Forschung in der Stasiunterlagenbehörde. Schönen guten Morgen!
Siegfried Suckut: Guten Morgen!
"Ein wichtiger und aussagekräftiger Quellenbestand"
von Billerbeck: Das sind ja drastische Töne. Was für Briefe sind das, und wo haben Sie die gefunden?
Suckut: Das sind Briefe, die ich gefunden habe in den Stasiunterlagen, und ich möchte gleich klarstellen, es sind nicht Eingaben, sondern es sind gewöhnliche Beschwerdebriefe. Eingaben gab es in der DDR sehr zahlreich, ungefähr 60.000, 70.000 pro Jahr. Und da beschwerten sich dann Bürger über zumeist Probleme mit ihrer Wohnung oder auch mit den Reisebestimmungen. Und sie taten es eigentlich, als würden sie eine Art Verwaltungsgericht für ihre Zwecke nutzen wollen.
Aber das hier sind schlichte politische Beschwerdebriefe in sehr unterschiedlicher Tonlage. Sie haben nun gerade einen zitiert, der hört sich martialisch an, aber es gab auch sehr differenzierte, es gab auch Briefe von Parteimitgliedern, von Altkommunisten gar, die über die Lage im Lande enttäuscht waren und die auch der Regierung so ein bisschen helfen wollten, die Wähler zu erkennen, weil sehr viele glaubten, Ulbricht oder Honecker, die sind doch von ihren unteren Funktionären durchweg fehlinformiert, und da schreibe ich ihm jetzt einfach mal einen langen, langen Brief oder auch einen kürzeren, in dem drinsteht, was alles im Handel nicht erhältlich ist und was zu tun ist, damit die deutsche Teilung nicht vertieft wird.
Das sind so zwei Hauptthemen, auf die man da stößt, und das sind sehr authentische Briefe. Da wird wirklich im O-Ton gesprochen, das ist nicht gefiltert durch irgendwelche Zusammenfassungen oder dergleichen. Und deshalb, glaube ich, ist das ein wichtiger und aussagekräftiger Quellenbestand, auf den ich da im Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen eigentlich so ein bisschen durch Zufall gestoßen bin.
Sorge vor einer Vertiefung der deutschen Teilung
von Billerbeck: Nun ist Ihr Buch, das daraus entstanden ist, ein ganz dickes, es hat fast 600 Seiten. Nach welchen Kriterien haben Sie denn diese Briefe ausgewählt?
Suckut: Ich habe danach gefragt, generell, was waren das für Menschen, die DDR-Bürger? Wie dachten sie politisch, was hielten sie von ihrer Regierung, welche Sorgen trieben sie jeweils im politischen Alltag, auch im persönlichen Alltag oder im betrieblichen Alltag um? Welches Bild von der DDR entsteht aufgrund dieser Briefe, die damals sozusagen in Ist-Zeit formuliert worden sind, und die man heute entsprechend so lesen kann wie damals zu Papier gebracht. Und das erhöht die Authentizität dieser Briefe, wie man sie, denke ich, sonst kaum irgendwo finden würde.
von Billerbeck: Welche Sorgen äußern sich denn in diesen Briefen besonders? Vor allem interessiert mich ja auch, ob sich der Ton – Sie haben Ulbricht und Honecker erwähnt, dazwischen liegen ja einige Jahre –, ob sich der Ton und die Themen im Lauf der Jahrzehnte verändert hat?
Suckut: Die Themen sind zum Teil konstant. Etwa die Sorge, dass die Teilung Deutschlands sich vertiefen könnte. Das fängt so schon 1970 an, als Willy Brandt dabei ist, nach Erfurt zu fahren, da erreicht – oder soll ihn erreichen ein Brief aus der DDR, der da so sinngemäß lautet: Denken Sie immer daran, dass wir dazugehören und dass Sie auch unsere Interessen da vertreten müssen. Wir wissen, wie man mit Kommunisten umzugehen hat. Das klingt so ein bisschen an, als könnte Egon Bahr das vielleicht nicht wissen oder Willy Brandt. Das ist so ein Thema.
Wirtschaftsthemen im Vordergrund
Aber auch 1984 noch, als Weizsäcker zum Bundespräsidenten gewählt wird, wird ein ganz ähnlicher Brief an Weizsäcker gleich gerichtet, in dem auch er aufgefordert wird, sich doch darauf zu besinnen, dass die DDR-Bürger mit dazugehören. Dahinter ist immer die Sorge, die Westdeutschen könnten auch gut ohne die DDR leben, was ja auch zutreffend ist. Und die Deutsche Frage, wenn man so will, wurde vor allen Dingen durch die Interessen der DDR-Bürger aufrechterhalten.
Das sind so Dinge, auf die man da trifft, aber auch die Sorge, sie könnten vielleicht mal zu einer sowjetischen Republik werden. Das ist gleich in den ersten Jahren sehr deutlich zu spüren und hängt auch mit der DDR-Verfassung zusammen, in der ja stand, wir sind für immer und unwiderruflich mit der Sowjetunion verbunden. Und sie hatten natürlich auch als zunächst einmal besetztes Gebiet sich völlig dem sowjetischen Willen unterzuordnen. Und sie sahen tagtäglich, dass ihre politische Führung sich geradezu begeistert von der Sowjetunion und deren politischen System äußerte.
Da war die Sorge, wir könnten mal hier zu russischen Staatsbürgern werden, etwas, was in den Jahrzehnten bis 1980 immer wieder anklingt. Nachher eher als Hoffnung: Hoffentlich machen wir endlich das nach, was Gorbatschow in der Sowjetunion vorgemacht hat. Und da sind sie dann enttäuscht und verärgert, dass Honecker das nicht tut. Das sind so Hauptthemen. Aber quantitativ sind die Wirtschaftsthemen im Vordergrund. Was es allüberall gerade mal nicht zu kaufen gibt.
von Billerbeck: Und da sind wir ja dann wieder sehr nahe an den vorhin erwähnten Eingaben, die man dann auch gemacht hat. "Volkes Stimmen. »Ehrlich, aber deutlich«. Privatbriefe an die DDR-Regierung" heißt Siegfried Suckuts Buch, mit dem ich gerade gesprochen habe. Und die Briefe haben, deshalb konnte er sie ja in den Stasiunterlagen finden, die Empfänger nicht erreicht. Das Buch erscheint morgen bei DTV. Herr Suckut, ganz herzlichen Dank!
Suckut: Ich danke Ihnen!
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