Besonnenheit

Wie eine umstrittene Tugend die abendländische Bühne betrat

Detail der Anbringung eines Wanteppichs. Links im Bild ist eine Hebebühne zu sehen, zwei Arbeiter stützen den Wanteppich mit Stangen.
Das Motiv zeigt einen monumentalen Innenraum, in dem eine Versammlung maßgeblicher Wissenschaftler und Philosophen von der Antike bis zur Renaissance stattfindet.
Für Platon war Besonnenheit eine der Kardinaltugenden - und doch bleibt sie ambivalent. © picture alliance / ANE / Eurokinissi / Giorgos Kontarinis
Gedanken von Florian Goldberg · 23.05.2022
Besonnenheit wird derzeit gern beschworen – etwa wenn es um Waffenlieferungen an die Ukraine geht. Ein Blick in die antike Philosophie zeigt jedoch: Die Tugend Besonnenheit war von Anfang an ein zweischneidiges Schwert, meint Florian Goldberg.
Seit Putin in der Ukraine Krieg führt, diskutiert Deutschland, wie, wann und ob geholfen werden soll. Die Art der Diskussion erinnert ein wenig an diesen alten englischen Witz: Sämtliche europäischen Staatsoberhäupter fallen in Brüssel einem Terroranschlag zum Opfer und wandern gen Himmel.
Dort angekommen, klopfen sie an die Pforte. Petrus öffnet und sagt: „Schön euch zu sehen. Aber ohne die Deutschen kommt ihr nicht rein!“ Man schaut sich verdutzt um. Richtig, keine Deutschen!? Einer ruft: „Unten waren doch Schilder. Eins wies zum Himmel, da sind wir lang. Auf dem anderen stand ‚Vorlesungen über den Himmel‘. – Und da sind die Deutschen hin!“
Sehr witzig! - Was hat das bitte mit der jetzigen Lage zu tun? Soll man sich Hals über Kopf in ein unabsehbares, womöglich finales Schlamassel stürzen? Es gilt doch abzuwägen und mit Bedacht vorzugehen!
Genau. Nichts überstürzen! – Bei allem medialen Theater scheint die Tugend der Besonnenheit so etwas wie der gemeinsame Nenner, auf den sich alle einigen können.

Bei Platon hat Besonnenheit einen verwirrenden Auftritt

Eine erstaunliche Renaissance.
Einst hochgeehrt, stand Besonnenheit schon länger in der Langweiler-Ecke herum. Bei den Bedenkenträgern, den Nichtrauchern, den Vegetariern. Zu pc für ein saftiges Steak, nicht hip genug für Hafermilch. Aber irgendwie brav und verlässlich. Dabei hat sie schon bei ihrem ersten Auftritt auf der abendländischen Bühne mehr Verwirrung gestiftet, als Klarheit gebracht. Bei Platon, im Dialog Charmides:
Sokrates und ein paar andere wollen herausfinden, was unter Besonnenheit zu verstehen sei. Mal in diese, mal in jene Richtung wendet sich das Gespräch. Es werden Themen an den philosophischen Himmel gezeichnet, die uns heute noch beschäftigen.
Doch kaum scheint eine Antwort in Sicht, durchkreuzt Sokrates die aufkeimende Gewissheit mit fiesen kleinen Fragen. Am Ende weiß man weder, was Besonnenheit wirklich meint, noch ob sie überhaupt einen Nutzen bringt.
Ein seltsamer Schlussakkord. Besonders, da Platon die Besonnenheit zu den vier Kardinaltugenden zählte.

Besonnenheit - die Tugend der Tyrannen

Es hilft ein Blick auf die Figuren: Allesamt historisch verbürgt, sind es neben Sokrates der Titel gebende Charmides, zur Zeit der Handlung noch ein Jüngling, sein Vormund Kritias und schließlich, als stiller Beobachter, Chairephon, ein Philosoph und Freund des Sokrates. Vor allem Vormund Kritias brachte es zwei Jahrzehnte später zu traurigem Ruhm.
Als einer der finsteren 30 Tyrannen half er, die attische Demokratie zu stürzen und eine brutale Gewaltherrschaft zu errichten. Charmides, vom Jüngling zum Günstling gereift, ergatterte sich dabei ein lukratives Pöstchen.
Zur Begründung ihres Herrschaftsanspruchs beriefen sich die 30 Tyrannen offenbar insbesondere auf die Besonnenheit. Vor allem diese Tugend zeichne sie aus vor dem vielstimmigen Wahnwitz der Demokraten. Ausgerechnet! Kaum an der Macht, etablierten sie eine Tradition, die Gewaltherrscher bis heute in Ehren halten: Sie ermordeten alle Oppositionellen, die sie erwischen konnten.
Bleibt Chairephon, der Philosoph. Als bekennender Demokrat flüchtete er zunächst ins Exil. Obwohl längst nicht mehr jung, unterstützte er bald darauf den Volksaufstand zur Wiederherstellung der Demokratie. Vermutlich fand er dabei den Tod.

Tugenden erweisen sich in der Praxis

In friedlicher Zeit war der blass-überspannte Stubengelehrte eine dankbare Zielscheibe der Komödiendichter gewesen. Nun überlässt er das Debattieren anderen und setzt sich ein für ein Gut, das ihm höher gilt als bloßes Überleben.
Die Witzfigur: der eigentliche Held.
Eine ziemlich gewagte Interpretation, möglich. Als hätte Platon eine Art geheimer Botschaft versteckt, die er der Nachwelt, vor allem der deutschen – danke! – nicht unmittelbar zumuten will. 
Für seine Zeitgenossen dürfte sie auf der Hand gelegen haben: Tugenden, darunter Besonnenheit, sind am Ende keine Frage spitzfindiger Erörterung oder plakativer Behauptung. Sie erweisen sich, wenn es darauf ankommt. Oder halt nicht.
Vom Freiheitswillen gilt dasselbe.

Florian Goldberg, geboren 1962, hat in Tübingen und Köln Philosophie, Germanistik und Anglistik studiert und lebt als freier Autor, Coach und philosophischer Berater für Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien in Berlin. Er hat Essays, Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht. Im Künstlerduo „tauchgold“ entstehen zusammen mit Heike Tauch Hör- und Bühnenstücke

Ein älterer Mann mit Brille und kurzen Haaren.
© Anke Beims
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