Besprechung

"Das Wort 'sozial' verliert an Bedeutung"

Andrew Keen ist bekannt als lautstarker Kritiker des Social Web. In seinem Buch »The Cult of the Amateur«, zu Deutsch: »Die Stunde der Stümper«, das 2008 bei uns erschienen ist, äußert er sich besorgt darüber, das Amateurinhalte, die im Internet massenhaft produziert werden, unsere Kultur trivialisieren.
Andrew Keen ist bekannt als lautstarker Kritiker des Social Web. In seinem Buch »The Cult of the Amateur«, zu Deutsch: »Die Stunde der Stümper«, das 2008 bei uns erschienen ist, äußert er sich besorgt darüber, das Amateurinhalte, die im Internet massenhaft produziert werden, unsere Kultur trivialisieren. Ein Beispiel dafür ist aus seiner Sicht Wikipedia. Das alles ist jetzt aber fünf Jahre her und wir wollten wissen, ob und wie sich seine Sicht auf das Mitmach-Web geändert hat. Die erste Frage lautete also:
Vera Linß:
Wie sieht ihre Perspektive heute aus? Inwiefern sind ihre Vorhersagen wahr geworden und was ist nicht eingetreten?
Andrew Keen:
Als ich »Die Stunde der Stümper« geschrieben habe, behaupteten viele, ich wäre elitär und reaktionär. In den fünf, sechs Jahren, nachdem das Buch erschienen ist, sind aber viele meiner Vorhersagen eingetroffen. Uns fehlt zunehmend eine geistige Autorität. Wir erleben mehr und mehr Kakophonie im Netz, mehr und mehr intellektuelles Chaos. Man sieht es an dem Niedergang der Zeitungen. Unsere Demokratie wandelt sich in eine Ochlokratie, in die Herrschaft des Mobs.
Wikipedia bietet sicher in gewisser Weise einen wertvollen Service. Ich gestehe, ich nutze es auch. Andererseits gibt es immer wieder Skandale bei Wikipedia, weil es so leicht ist, Dinge zu verbreiten, die falsch sind. Vor einigen Wochen gab es den Fall, dass jemand einen Eintrag veröffentlichte über einen Krieg, der nie stattgefunden hat. Über Jahre hinweg hat das niemand korrigiert. Das ist das grundlegende Problem bei Wikipedia: Es fehlt an Transparenz. Und es werden professionelle Redakteure benötigt, die eingreifen können und die dafür, dass sie die Qualität der Seite verbessern, auch bezahlt werden müssen.
Was mich am meisten an Wikipedia stört ist dieser Kult um kostenlose Inhalte. Niemand wird bezahlt bei Wikipedia, nicht mal der Gründer Jimmy Wales. In der Konsequenz führt das dazu, dass immer mehr Vertreter der intellektuellen Klasse kein Geld erhalten für ihre Arbeit. Für diese Krise sollte Wikipedia Lösungen finden! Aber die radikalen Verfechter der Kostenloskultur dominieren den Diskurs und sind nicht geneigt, ein wirkliches Business um Wikipedia herum zu bauen.
Vera Linß:
Lassen Sie uns über soziale Netzwerke sprechen. Sie haben geschrieben, dass viele Menschen sich genötigt sehen, da mitzumachen aus einer sozialen Dynamik heraus, aufgrund des sozialen Drucks. Andererseits nutzen aber viele sehr gern soziale Netzwerke. Wie würden Sie die Rollen von sozialen Netzwerken heute beschreiben?
Andrew Keen:
Ich habe gerade das Buch «Digital Vertigo« geschrieben. Den Titel habe ich gewählt, weil es ein Remix ist aus Alfred Hitchcocks großartigem Film »Vertigo«, wo sich ein Mann in eine Frau verliebt, die eigentlich gar nicht existiert. Genau so haben sich viele von uns einfach in die sozialen Netzwerke verliebt.
Sie haben Recht: Manche Menschen nutzen sie auch intelligent. Aber ich denke, es gibt zwei, drei fundamentale Probleme mit den sozialen Medien. Das erste ist, sie sind zunehmend narzisstisch. Wir reden dort nur über uns selbst, über das, was wir tun. Was wir daran mögen, ist nicht das soziale, sondern wir verlieben uns in uns selbst. Für die meisten sind die sozialen Medien eine Architektur, in der sie damit beschäftigt sind, sich selbst von sich selbst zu erzählen. Viel Soziales passiert da nicht.
Das andere ist - und da gibt es eine noch viel stärkere Verbindung zu Hitchcocks dunklem Film - dass wir in den sozialen Medien in Produkte verwandelt werden. Marc Zuckerberg möchte uns beherrschen, er möchte unsere Identität besitzen. Er hat sogar ein Produkt namens Timeline geschaffen, mit dem er Besitz über unser Leben im Netzwerk erlangen will. In den sozialen Medien sind wir alle ein Produkt.
Zuckerberg kauft uns ein. Der Grund, warum sein Unternehmen an der Börse zwischen 50 und 100 Milliarden Dollar wert ist, liegt darin, dass er mehr und mehr Daten sammelt. Das ist die Albtraum-Qualität der sozialen Medien. Hinter all dem vermeintlichen Altruismus und dem Optimismus, der verbreitet wird, werden wir ausgenutzt, ausgebeutet. Wir alle sind Mitspieler in der Neuauflage eines Hitchcock-Films. Wir alle sind dieser unschuldige Held Jimmy Stuart, gefangen in einer Geschichte, die wir nicht verstehen.«
Vera Linß:
Sehen Sie gar keinen Nutzen? Immerhin sind sie doch ein Werkzeug, mit dem man sich vernetzen und kommunizieren kann.
Andrew Keen:
Einige Dinge sind nützlich. Wir leben zunehmend in einer Aufmerksamkeitsökonomie. In diesem postindustriellen Zeitalter werden wir alle selbständige Unternehmer, Entrepreneurs. Und wir bauen uns selbst als Marke auf. Wir vernetzen uns, erfinden uns und erfinden uns dann wieder neu. Das ist Teil der New Economy, der Dienstleistungsgesellschaft. So gesehen sind die sozialen Netzwerke zu einer Plattform geworden, auf der wir uns selbst verkaufen können. Services wie Linkedin oder Twitter sind hierfür sehr wertvoll. Insofern ist es kein Zufall, dass die sozialen Medien das Vehikel geworden sind für den Wandel von der Old zur New Economy. Sie haben den Wandel beschleunigt. Und sie sind auch die Konsequenz aus dem Zusammenbruch des alten, auf monolithischen Hierarchien gebauten Wirtschaftssystems.
Vera Linß:
Lassen Sie uns in die Zukunft schauen. Glauben Sie, dass soziale Netzwerke eine Zukunft haben? Und wenn ja, wie würde die aussehen?
Andrew Keen:
Was mir Angst macht ist die Art und Weise, wie das Attribut »sozial« zur unausgesprochenen Grundlage von allem wird. Jedes neue Produkt hat ein soziales Element.
Das führt dazu, dass das Wort »sozial« zunehmend an Bedeutung verliert. Immer, wenn wir fernsehen oder Radio hören, immer wenn wir in ein Restaurant gehen, sagen wir der Welt, was wir gerade machen. Das Soziale wird allgegenwärtig sein. Es wird zur Essenz der Netzwerke werden, so selbstverständlich, dass es gar nicht mehr der Rede wert sein wird. Wir nehmen es als gegeben hin.
Das führt natürlich zu Gegenreaktionen. Es wird Newsservices geben, die antisozial sind. Die Anonymität garantieren, Privatsphäre, Geheimnisse, Abspaltung vom Netzwerk. In ein oder zwei Generationen bekommen wir ernstzunehmende Alternativen zur Allgegenwärtigkeit des Sozialen, die sich gegen die voyeuristische Überwachungskultur richten werden.
Vera Linß:
Würden Sie sagen, dass es einen Missbrauch des Worts »sozial« gibt?
Andrew Keen:
Absolut. Das Wort sozial hatte seine Bedeutung völlig verloren. Was wir heute in der digitalen Welt haben sind schwache, fragmentierte Individuen, die eine schwache Gesellschaft bilden. Wir brauchen aber starke Individuen, die eine starke Gesellschaft bilden. Ich bin nicht gegen das soziale. Aber ich bin gegen den Missbrauch des Wortes. Gegen die Art und Weise, wie es von Unternehmen wie Facebook genutzt wird, um großen Reichtum anzuhäufen und uns und unsere Gemeinschaften zu zerteilen.
Vera Linß:
Sie sagten in einem Interview, Ihr nächstes Buch über soziale Netzwerke wird keine Attacke aufs Internet mehr werden. Was können wir von Ihnen erwarten in der Zukunft?
Andrew Keen:
Was können Sie von mir in der Zukunft erwarten? Ich weiß es nicht, gute Frage. »Die Stunde der Stümper» war eine harsche, aber effektive Polemik gegen das Web 2.0 Mein jüngstes Buch »Digital Vertigo« ist eine moderatere, nuancierte Kritik an den sozialen Medien. Wenn ich ein drittes Buch machen sollte - was immerhin viel Arbeit wäre - dann möchte ich etwas Überraschendes machen, nichts, was man von mir erwartet. Ich weiß noch nicht, was das sein könnte, aber es wird hoffentlich überraschend sein.
Die englische Fassung des Interviews mit Andrew Keen gibt es hier zum Download:
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Vera Linß und Andrew Keen
Foto oben: Andrew Keen steht sozialen Medien wohl kritischer gegenüber als Muffins. Foto: Wikipedia, CC-BY