Jürgen Habermas: "Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit"

Der zwanghafte Zwang des besseren Posts

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Das Cover "Neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Kritik" erscheint in schlichtem rot und ausschließlich mit dem Titel und dem Namen des Autors, Jürgen Habermas.
60 Jahre nach seinem Klassiker "Strukturwandel der Öffentlichkeit" nimmt Jürgen Habermas die Digitalisierung in den Blick - und was sie für die Demokratie bedeutet. © Deutschlandradio/ Suhrkamp
Von Norman Marquardt |
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60 Jahre nach seinem Klassiker zieht Jürgen Habermas noch einmal Bilanz: In "Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik" geht er mit den digitalen Medien hart in die Kritik.
Politische Öffentlichkeit lebt von den engagierten Beiträgen gewissenhafter Privatleute, ihrer Verpflichtung auf Vernunft und das stärkste Argument. In seiner Habilitation „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, unterstrich der junge Jürgen Habermas vor mittlerweile 60 Jahren: Aufgerieben zwischen Film, Funk und Fernsehen, gerate diese partizipative Kultur zunehmend unter Druck. Der aktive Diskurs weiche dem passiven Konsum.

War das Original zu pessimistisch?

Aber der „Strukturwandel“ war immer komplexer als sein Ruf. Einerseits beschrieb Habermas den unbefriedigenden Charakter moderner politischer Kommunikation – einer in Parteien und Verbänden organisierten Massendemokratie, die Bürger*innen oft nur als Träger von privaten Interessen begreift.
Andererseits erzählte er eine Geschichte: von der Entstehung bürgerlichen Selbstbewusstseins im Stimmengewirr vielbesuchter Kaffeehäuser, verrauchten Salons und angeregten Lesezirkeln, und der revolutionären Idee, mit den Mitteln der Publizität die Obrigkeit in Schach zu halten.
Er wüsste nicht, welches Ergebnis eine Untersuchung der Öffentlichkeit heute zu Tage fördern würde, schrieb Habermas 1990 im nachgereichten zweiten Vorwort des „Strukturwandels“. Wahrscheinlich wäre sie nicht so „pessimistisch“ und ihr Ausblick „weniger trotzig“. Denn erst die Allgegenwart des Massenmediums Fernsehen habe die Demonstrierenden von 1989 in eine demokratische Macht verwandelt.

Zerfall in Halböffentlichkeiten

Mit der digitalen Medienrevolution ist dieser einstweilige Optimismus heute verflogen. Das kulturkritische Motto im Buch über den „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“, das Habermas nun vorgelegt hat:

Wie der Buchdruck alle zu potenziellen Lesern gemacht hatte, so macht die Digitalisierung heute alle zu potenziellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt hatten?

Jürgen Habermas

Menschen erlangten auf sozialen Netzwerken zwar ihr Recht auf eine eigene Stimme. Das führe aber nicht, wie in der Frühzeit des Internets noch erhofft, zur Verwirklichung des Traumes von einer direkten deliberativen Demokratie, so Habermas.
Stattdessen beobachtet er eine Gesellschaft, die zerborsten in „Halböffentlichkeiten“ ihre gemeinsamen Bezugspunkte verliert. Die „Wir sind das Volk“-Formel bekommt auf unmoderierten Plattformen wie TikTok, Twitter und Telegram einen anderen Klang.

Diese Räume scheinen eine eigentümlich anonyme Intimität zu gewinnen: Nach bisherigen Maßstäben können sie weder als öffentlich noch als privat, sondern am ehesten als eine zur Öffentlichkeit aufgeblähte Sphäre einer bis dahin dem brieflichen Privatverkehr vorbehaltenen Kommunikation begriffen werden.

Jürgen Habermas

Regeln für eine digitale deliberative Demokratie

Habermas argumentiert für das, was man neudeutsch content moderation nennt: Er fordert Mindeststandards für die Qualität sämtlicher öffentlich einsehbarer Online-Texte.
Analog zur journalistischen Sorgfaltspflicht müssten Digitalkonzerne etwa für die Verbreitung von falschen Informationen haftbar gemacht werden können. Andernfalls drohten Demokratien ihre wichtigsten Grundbedingungen zu verlieren: das individuelle Bewusstsein für eine Schwelle zwischen öffentlichen und privaten Äußerungen, die allgemeine Orientierung am Ideal eines vernünftigen Diskurses und den Glauben an eine von allen Bürger*innen geteilte und gemeinsam gestaltbare Welt.
Was die Digitalisierung außer plattformbasierter Kommunikation mit sich bringt, bleibt allerdings unklar. Habermas deutet lediglich an: „mit der elektronischen Digitalisierung haben sich seit wenigen Jahrzehnten (…) die binär codierten Zeichen vom beschriebenen Papier abgelöst.“
Der weltweite Fluss von Informationen habe sich dadurch radikal beschleunigt.

Wie weit reicht die Manipulation?

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff war in ihrem Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ da schon deutlicher. Sie unterstreicht: Die Auflösung der Welt in Code ermöglicht wesentlich auch die Berechnung von individuellem und kollektivem Verhalten.
Spätestens seit Edward Snowden und Cambridge Analytica ist das Ausmaß bekannt, in dem sich derzeit die Techniken und Strategien politischer Manipulation und Herrschaft entwickeln. Die gezielte Verbreitung von Desinformationen ist nur eine davon.
Vor wenigen Wochen nahm sich daher auch der Videoessayist Tom Nicholas dem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit an. Sein Argument folgt weitestgehend dem von Habermas. Aber statt einer drohenden „Deformation“ des politischen Bewusstseins sorgt ihn das Sein der digitalen Welt.

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Die nüchterne Schlussfolgerung seines einstündigen YouTube-Essays: „Stand jetzt müssen sich Social-Media-Unternehmen in keinem relevanten Umfang vor ihren Nutzerinnen und Nutzern verantworten und diese haben keinen relevanten Einfluss auf die Entwicklung von Moderationsprinzipien. Deswegen ist es eigentlich egal, wie wir unsere gegenwärtige Öffentlichkeit gestalten möchten; das wird einfach für uns entschieden.“
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