''Besser alt werden''

Von Volker Wagener |
Dass wir älter werden und mehr Alte werden, ist bekannt und erkannt. Dennoch bringt die Erkenntnis erstaunlicher Weise nur geringe Aktivitäten hervor. Bielefeld hat jetzt mit einer Bestandsaufnahme angefangen, sich dem demographischen Problem zu nähern.
Dabei kam heraus: zu lange Wege in der Innenstadt, zu wenig altersgerechte Wohnungen, schlecht ausgebildete Altenbetreuung, Jung und Alt werden auf Abstand gehalten. Es geht also um Verkehr, Wohnungsbau, den Aufbau einer altersgerechten Pflege, das Zusammenleben von Hilfebedürftigen und Leistungsfähigen - und - vieles mehr. Bielefeld fängt schon mal an.

"Flachsfarm" steht neben der Eingangstür. Die Adresse: Flachsstrasse. Der moderne Bau mit der skandinavisch anmutenden Holzplanken-Verkleidung - hinter der konsequenterweise Flachs als Dämmstoff verbaut wurde - ist bekannt in Bielefeld. Und nicht nur hier. Seit über den etwas anderen Kindergarten in den Medien berichtet wird, lassen sich andere Kommunen gerne erklären und vorrechnen, wie denn die großzügige Kinderbetreuung in Ostwestfalen so funktioniert. Das übernimmt dann - nicht ohne Stolz - Wilfried Lütkemeier. Er steht der "Van-Laer-Stiftung" vor. Eine Stiftung, die die Millionen eines Bielefelder gleichen Namens verwaltet, der vor rund 100 Jahren mit Kaffee in Übersee den ganz großen Wurf gemacht hatte. Heute fließt die Rendite seines Geschäftserfolges ausschließlich in Kinder- und Familienprojekte. Zum Beispiel in die Flachsfarm, genauer, in eine Gruppe dieses Kindergartens. Und die heißt "Minimax".

Minimax ist ein Element eines Ganzen, das mittlerweile bundesweit als "Bielefelder Modell" Beachtung findet. Die Tatsache, dass in 20, 30, 50 Jahren deutsche Städte zum Teil erheblich Einwohner verlieren werden hat in der Mittelstadt, die vor dem Krieg mit ihrer Textil- und Maschinenbau-Industrie boomte, Aktivitäten ausgelöst, die man als praktische Vorbereitung auf den großen Schwund bezeichnen könnte. Was Kinderbetreuung jetzt mit dem demographischen Knick demnächst zu tun hat, erklärt Wilfried Lütkemeier so.

"Das Problem ist ja nicht die Überalterung, ... wir brauchen schlichtweg mehr Kinder und da spielt gute Kinderbetreuung die entscheidende Rolle ..."

Das Kinderlosigkeit bald der Regel- und die "Ein-Kind-Familie" derzeit der Standardfall ist, hat neben anderen Gründen viel mit der Unvereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung zu tun. Deshalb setzt Minimax hier den Hebel an. Die Kinder können schon ab 6:30 Uhr gebracht werden. Maximal bis 20:30 Uhr steht professionelle Betreuung zur Verfügung. Allerdings dürfen Kinder nicht länger als neun Stunden bleiben. Hol- und Bringzeiten sind hingegen völlig frei. Und: Schon ab einem halben Jahr nimmt die Einrichtung die Kleinen auf. Schon jedes einzelne Detail der Minimax-Gruppe in der Flachsfarm lässt aufhorchen, die Summe aller Angebote erst recht.

Lütkemeier: "Also, zum Beispiel ein Bring- und Holedienst für diejenigen, die beruflich nicht in der Lage sind, innerhalb der Öffnungszeiten ihr Kind selbst zu bringen oder abzuholen. Zum Beispiel eine Ärztin, die im Krankenhaus nicht weiß, wann genau sie die Station, den OP verlassen kann. Der wird dann das Kind abgeholt oder eben gebracht."

Paradiesische Verhältnisse für Mütter und Väter, die nach oben sogar noch steigerungsfähig sind. Die Nachfrage übersteigt das Angebot. Mehr als 15 Plätze sind derzeit nicht im Angebot. Vor allem Müttern in Spitzenpositionen bieten sich über Minimax erstaunliche Perspektiven.

Lütkemeier: "Wir bieten sogar für eine international tätige Notarin an, eine Erzieherin über Nacht mit ins Ausland zu nehmen, damit ihr Kind bei ihr sein kann … wir tun also einiges, damit Kinderbetreuung und die Ausübung des Berufs ermöglicht wird."

Und das hat seinen Preis. Eine Sozialveranstaltung ist das Minimax-Modell nicht gerade. Für die allein erziehende Kassiererin im Supermarkt bleibt die Flachsfarm Utopie. Es sind die Bielefelder Unternehmen, die sich auf die raren Plätze bei Minimax stürzen, denn die Firmen zahlen die Extras, die wirklich teuer sind. Die Stadt und die Eltern zahlen das, was auch für normale Einrichtungen aufzuwenden ist. Den wahren Betreuungsluxus zahlt die Wirtschaft offensichtlich gerne für ihre gehobenen Mitarbeiterinnen. Und sei es nur, um mit diesem Angebot werben zu können, erzählt Wilfried Lütkemeier. Für die Stadt ist Minimax ein kleiner, aber feiner so genannter "softer Standortvorteil" gegenüber der Konkurrenz in Hannover, Dortmund oder Gütersloh.

Susanne Tadje sieht solche Entwicklungen mit Wohlgefallen. Die Dame in der ersten Etage des Bielefelder Rathauses ist Deutschlands erste und einzige kommunale Demographie-Beauftragte. Sie soll die wissenschaftliche Literatur zum anstehenden Bevölkerungsrückgang auswerten, das Problem der Überalterung und des Bevölkerungsschwunds in der Stadt bekannt machen und für die Stadtväter und Mütter Handlungsbeschlüsse vorformulieren. Seit knapp zwei Jahren ist sie im Amt. Was abstrakt klingt ist in Wirklichkeit städteplanerische Detailarbeit.

Da muss zum Beispiel geklärt werden, ob Bielefeld die Stadtbahn, also die Straßenbahn, bis nach Theesen verlängern soll. Theesen liegt sechs Kilometer außerhalb des Stadtzentrums. Hier wohnt der "Typ grün-wählender Studienrat". Also relativ gut verdienende Bürger mit Nutzungsansprüchen an die Infrastruktur der Stadt, vor allem der Kulturangebote. Theesen ist also eine Überlegung wert, ob es sinnvoll ist, diesen Stadtteil für viel Geld verkehrstechnisch näher an das Zentrum heran zu führen, meint Susanne Tadje.

"Es ist insofern ein Thema, als in Theesen, in der der gut situierte Mittelstand wohnt, ... Die Frage ist: Brauchen die in einigen Jahren, wenn deren Kinder aus dem Haus sind, noch eine Stadtbahnanbindung?"

"Neuere Steuerungsmodelle in der kommunalen Verwaltung", heißt der Titel einer noch unvollendeten Schrift, über die sich Susanne Tadje nach Feierabend regelmäßig beugt. Es ist ihre Doktorarbeit. Ihre Erfahrungen der Zukunftsplanung in einer Mittelstadt wird, rein wissenschaftlich gesehen, erst später diskutiert werden können. Aber schon jetzt kann sich die Projektleiterin "Demographische Entwicklung" vor Anfragen aus anderen Kommunen kaum retten. Ein Vortrag hier, ein Besuch dort - in Metropolen wie in Kleinstädten wird urplötzlich der Bedarf nach Beratung entdeckt. Zum Beispiel zu Fragen der zukünftigen Wasserwirtschaft.

Wenn die Städte schrumpfen, was wird dann mit der Kanalisation? Konkret: Wenn ein Wassersystem für einen Stadtteil, in dem heute noch 30.000 Menschen leben, in 25 Jahren nur noch 20.000 Menschen zu versorgen hat, dann stellt sich die Frage des Rückbaus. Denn sonst müssten die Kanalsysteme regelmäßig geöffnet und künstlich Wasser durchgeleitet werden, damit sich keine Keime einnisten. Das alles ist nicht zuletzt eine Frage der Kosten, nicht nur für die Kommune, sondern auch für die Verbraucher. Denn Wasser wird pro Kopf abgerechnet, erklärt Susanne Tadje.

"Die entscheidende Frage bei den Rohren wird sein: Wann kippt das Verhältnis? - Ab wann müssen wir zweimal die Woche die Kanalisation öffnen. "

Eine sehr technische Angelegenheit, sicher. Aber der unabwendbare Schwund in den Städten wirft schon heute Fragen auf, auf die Soziologen schon länger aufmerksam machen. Wir werden bunter, heißt es immer mal wieder hörbar politisch korrekt. Will heißen: In 30 Jahren haben sich nicht nur die Relationen zwischen Alt und Jung zu ungunsten letzterer verschoben, sondern auch die zwischen Deutschen und denen, die zwar auch einen Pass mit Bundesadler im Portemonaie tragen, aber kulturell und religiös anders sozialisiert wurden. Das Altersheim in einer deutschen Großstadt wird 2036, so Susanne Tadje, mit dem heutigen nicht mehr so ganz vergleichbar sein.

"Also, wir müssen uns ja überlegen, was passiert, wenn mehr und mehr Migranten ins Altersheim kommen? Kann dann der deutsche männliche Pfleger eine türkische Seniorin pflegen? Oder lässt sich ein türkischer Mann von einer Frau pflegen? Feiern wir dann noch Weihnachten im Altersheim oder begehen wir gleichzeitig auch alle islamischen Feiertage?"

Die Botschaft, die in solchen Fragen unausgesprochen mitklingt, ist eindeutig. Wenn sich die Kommunen für die Zukunft aufstellen wollen, müssen sie auf breiter Front Veränderungen einleiten. Seniorenheime werden dann auch von Türken bewohnt werden, deren Lebenstraum, irgendwann mit der Rente wieder nach Anatolien zurückzukehren, zerschlagen hat. Das Personal sollte also Türkischkenntnisse haben und über den Islam in Grundzügen Bescheid wissen. Denn dass wir bunter werden, ist eine Tatsache. Und die stärkste Fraktion in der Gesellschaft stellen dann die über 60-Jährigen. Schon mehr als jeder Vierte gehört in Bielefeld dieser Altersgruppe an. Und fast sechs Prozent Bielefelder sind sogar jenseits der 80. Um den Alten in wenigen Jahrzehnten eine ihren Möglichkeiten entsprechende Lebens- und Wohnperspektive zu geben ist vor allem eine Herausforderung für die Städteplaner, Architekten, Wohnungsbaugesellschaften. Zum Beispiel für die BGW, die "Bielefelder Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft".

"Ja, das ist der Gemeinschaftsraum … hier wird gekocht und gemeinsam gegessen. Frau Kaiser ist hier die gute Seele im Haus.

Frage: Man isst hier jeden Tag zusammen?
Nein, keiner muss. Man kann hier für ...
Wie viel kostet das jetzt mittags, Frau Kaiser?
4 Euro 60 und Frau Kaiser kümmert sich. Es gibt Angebote und keine Pflichtveranstaltungen. Es wird erst dann etwas bezahlt, wenn man es auch in Anspruch nimmt."

Norbert Müller führt gerne auswärtige Gäste durch den Wohnkomplex in der Heinrichstraße 24. Er ist der Geschäftsführer der BGW, der mit Abstand größten Wohnungsgesellschaft in Ostwestfalen. Nicht die Größe sondern der neue Akzent im Bauprogramm der BGW bringt dem Unternehmen Schlagzeilen. Und zwar gute. In Bielefeld sowieso, aber auch in Bayern, Bremen oder im Ruhrgebiet. "Selbstbestimmt Wohnen mit Versorgungssicherheit", heißt das, was andere Kommunen den Bielefeldern mittlerweile neiden. Ein Wohnprojekt mit Perspektive vor allem für die Alten, davon ist Karin Kaiser überzeugt.

Kaiser: "Ich denke, das ist das Wohnen der Zukunft.
Wir hatten jetzt 22 Leute zum Neujahrsbrunch.
Frage: Ich seh hier noch die Überreste des Weihnachtsfestes und der Silvesterknallerei.
Silvester war es etwas ruhiger, aber ab 11 Uhr saßen wir alle beisammen."

21 öffentlich geförderte Wohnungen mittlerer Größe zu 4 Euro 15 Kaltmiete und - als Gegenfinanzierung sozusagen - 21 frei finanzierte Domizile zum doppelten Quadratmeterpreis. Schon in der Bauphase waren alle Einheiten vermietet. Und die Warteliste ist lang. Norbert Müller.

"Am Anfang hat man uns bei den Mieten für verrückt erklärt. Aber es ist den Leuten etwas wert, in Versorgungssicherheit zu leben. Manche haben ihr Eigenheim verkauft, um hier wohnen zu können."

Wenn das Bielefelder Wohnmodell auch in der Breite Schule machen sollte, werden die konventionellen Altenheime unter Druck geraten. Denn in der Heinrichstraße - nicht die einzige Wohnanlage ihrer Art in der Stadt - haben die Bewohner Angebote wie im Altenheim, bleiben dabei aber selbst bestimmte Mieter ihrer eigenen Wohnung und genießen trotzdem Serviceleistungen wie in einer Pflegeeinrichtung.

Müller: "Das Angebot des Pflegedienstes ist hier, weil in der Anlage fünf Schwerstpflegebedürftige zuhause sind. Aber auch die anderen, nicht behinderten Bewohner, können auf den Pflegedienst zurückgreifen. Zum Beispiel bei einer Angstattacke in der Nacht ist jemand da. Das ist den Leuten etwas wert, da muss man nicht gleich den Notdienst anrufen. Es ist jemand im Haus. Untersuchungen haben gezeigt, dass, wer angstfrei und sicher lebt, der wird auch weniger krank."

Für den Pflegedienst lohnt sich die Fürsorge auch für die anderen im Haus. Ihre Leistungen rechnen sie über die fünf Schwerstpflegebedürftigen mit den Kassen ab. Eine Reihe kleinerer Dienste für den Rest der Hausgemeinschaft werden unentgeltlich mitgemacht. Eine weitsichtige Politik des Pflegeunternehmens. Denn wer heute kleine Hilfen bekommt, ist der Kunde von morgen.

Müller: " … also hier sehen Sie die Farben und Symbole bei den Briefkästen. Das ist wichtig für die alten Leute. Die werden so durch das ganze Haus geführt."

Hermerschmidt: "Also, ich bin sehr zufrieden. In alter Wohnung war ich fast fünf Jahre eingeschlossen. Hier kann ich raus, zum Beispiel in meine Schlaganfall-Gruppe ... das find ich toll."

Monika Hermerschmidt kann sich nur im Rollstuhl fortbewegen. Sie wohnt nicht in der Heinrich- sondern in der Meinolfstraße. Die Wohnidee ist ähnlich, der Träger ein anderer. "Freie Scholle" nennt sich die Genossenschaft die 1911 von Arbeiter-Turnern gegründet worden war. Seit 25 Jahren gibt es das "Schollen-Wohn-Modell". Barrierefreies Wohnen, lebensgerechtes Wohnen, Nachbarschaftsprinzip, um diese Schwerpunkte bemüht sich die Scholle. "Ich wohn in der Scholle", ist in Bielefeld Ausdruck eines privilegierten Lebensgefühls für Familien mit Kindern, vor allem aber der Alten. Bernhard Koppmann, der Vorstandsvorsitzende der Freien Scholle, weiß sich mit seiner Wohnidee ganz auf der Linie der Stadtväter und Mütter, die Bielefeld auch in 30 Jahren noch attraktiv für ihre Bürger erhalten wollen. Gerade für die über 60jährigen die schon jetzt ein Viertel der Bevölkerung stellen.

Koppmann: "Bei uns kommen die Leute wieder in die Stadt zurück. Jahrelang haben die im Speckgürtel gelebt, jetzt fragen sie an, ob sie nicht in der Scholle leben können."

Eine Scholle-Siedlung ist ein Vollversorgungsbiotop. Senioren und auch Familien mit Kindern haben buchstäblich den Laden um die Ecke, extra wegen der Schollesiedlung in der Meinolfstrasse hat die Stadt eine Bushaltestelle direkt vor die Wohnanlage platziert. Im Erdgeschoss hat Martin Kaufmann sein Büro. Er ist Sozialarbeiter in der Scholle.

Kaufmann: "Wir haben hier barrierefreie Wohnungen für Behinderte, familiengerechte Wohnungen … sind aber kein Altenheim sondern ein Nachbarschaftszentrum."

Wer hier einzieht, kommt nicht nur wegen des attraktiven Preises oder der guten Infrastruktur, sondern auch wegen des besonderen Verhältnisses zu den Mitbewohnern. Der Genossenschaftsgedanke wird hier ganz praktisch wiederbelebt. Alle Scholle-Bewohner sind Mitbesitzer der insgesamt 5000 Wohnungen, das heißt: Das Verantwortungsbewusstsein für das Ganze, die Atmosphäre in der Siedlung, den Zustand der Anlage, rückt 80-Jährige und studierende Singles enger zusammen. Was offensichtlich allen gefällt. Kaum einer hat etwas auszusetzen am Modell Meinolfstrasse, meint Monika Hermerschmidt.

"Also, wer sich hier nicht wohl fühlt, der hat selber Schuld."

Das große Bedürfnis, nicht anonym leben zu wollen, ist den Bewohnern gemeinsam. Jeder wohnt für sich und doch alle zusammen. Topfguckerei gibt es nicht. Die Arbeiterwohlfahrt kümmert sich um die Alten und unterhält gleichzeitig eine Krabbelgruppe. Eigentlich muss man die Siedlung für den täglichen Bedarf gar nicht verlassen, was vor allem den Senioren und den Behinderten entgegenkommt. Hier sind die Geschäfte, die Pflegedienste und andere Dienstleister zu den Menschen gekommen und nicht umgekehrt. Axel Hermerschmidt und seine Frau Monika wollen jedenfalls nie wieder umziehen.

"Die Zufriedenheit ist hier sehr hoch ..."

"Frage: Für was müssen sie überhaupt aus der Wohnanlage raus?
Wir haben hier einen Friseur, Altenpflege, Pflege …
.Was haben wir noch Schatz?
Ja Ergotherapie … haben hier alle. Eigentlich müssen sie nur raus, wenn sie mal zur Arminia wollen.
Genau."

"Die Reise nach Reims". Eine Oper Gioacchino Rossinis aus dem Jahr 1825. Morgen ist die letzte Aufführung am Theater in Bielefeld. Das Stück wirft mit seiner Inszenierung viele der Fragen auf, die das "Bielefelder Modell" schon in Angriff genommen hat. Wie lebt eine alternde Gesellschaft, wenn der Geist noch willig, das Fleisch aber schon schwach geworden ist?

"Die Reise nach Reims" wurde von Rossini aus Anlass der Vermählung des französischen Bourbonenkönigs Charles X. geschrieben. Die Handlung ist folgende: Eine illustre Reisegesellschaft europäischer Adliger verabredet sich zur gemeinsamen Reise nach Reims, um an der Hochzeit teilzunehmen. Eine Panne mit der Kutsche verhindert schließlich die Weiterreise, die Hochzeitsgäste kommen nie an. Reims, das Ziel, bleibt unerreicht.

Die Bielefelder Inszenierung lässt nun die Reisenden nicht an den fehlenden Transportmöglichkeiten scheitern, sondern an ihren körperlichen Begrenztheiten, denn die Handlung der Oper aus dem frühen 19. Jahrhundert spielt in Ostwestfalen vor der Kulisse eines Altenheims. Wörtlich heißt es im Programmheft: "Reims, das ist ein Ort, zu dem jeder möchte, den aber niemand erreichen kann. Doch wo gibt es heute einen solchen Ort? Die Suche nach einem Ort, der die Sehnsucht dort anzukommen in sich trägt, führt weg von konkreten Plätzen und Ortschaften, sondern siedelt Reims im Bereich individueller Sehnsüchte an, die aufgrund bestimmter persönlicher Umstände niemals erreicht werden können.".

Reims steht für die Visionen im Kopf, die wegen körperlicher Gebrechen nicht mehr verwirklicht werden können. Ein Sinnbild auf das Leben in einer deutschen Großstadt in 50 Jahren, wenn der Puls der Kommune nicht mehr vom Jugendkult befeuert, sondern von den Möglichkeiten der Alten geprägt wird, die im Gefängnis ihrer Körper sitzen und dennoch Lebensfreude empfinden. Auf der Bielefelder Bühne phantasierte sich eine komplette Altenheim-Belegschaft in eine nur gedachte, vorgestellte Reise nach Reims hinein.

Eine spannendere Beschäftigung für die Alten als ein Bastel-Nachmittag mit dem Ergotherapeuten, aber auch ein Tabubruch, einer, auf den Bielefeld ein wenig besser vorbereitet zu sein scheint als andere.