Besser eine schlechte Kindheit, als gar nicht erwachsen werden

Von Matthias Gronemeyer |
Wie sehr sollten wir uns als Erwachsene nach unseren Kindern richten? Der Philosoph Matthias Gronemeyer warnt davor, den schon von Kant beschriebenen Zusammenhang zwischen Freiheit und Würde zu ignorieren. Erwachsen zu werden, erfordere eine nun mal auch eine gewisse Anstrengung.
Am Nordseestrand konnte ich diesen Sommer einen Vater mit seinem etwa dreieinhalbjährigen Sohn beobachten. Beide spielten. Der Vater baute mit Hingabe Sandburgen, zog Wassergräben, blies Bälle auf und redete ununterbrochen auf seinen Kleinen ein: Komm Luka, möchtest du ein Eis oder wollen wir erst die Piraten auspacken? Luka, auf was hast du denn Lust? Das ging ununterbrochen so; der Vater umkreiste sein Kind wie die Erde die Sonne.

Nach vier Stunden verließ ich den Strand. Hier wollte offensichtlich einer ein ganz besonders guter Papa sein – und war doch nur lächerlich. Mir erschien die Bespaßung unwürdig und der kleine Junge tat mir leid. Pausenlos sollte er etwas wollen und war mit dieser Freiheit sichtlich überfordert.

Es gab Zeiten, da haben sich Kinder ihre Freiräume gegen die Erwachsenen noch erkämpfen müssen. Und das war gut so, denn es erforderte Anstrengung, war mit zum Teil schmerzhaften Rückschlägen verbunden und förderte so den Reifungsprozess. Kindheit war etwas, das überwunden werden musste, denn erst als Erwachsener war man ein ganzer Mensch, der alle Rechte besitzt.

Inzwischen sind viele Erwachsene, nicht nur Eltern, zu Glücksdienstleistern der Kinder geworden. Alles Leid soll von den Kleinen ferngehalten werden. Dazu gehört es auch, eine kinderfeindliche Politik zu beklagen, die sich zu sehr an den Interessen der Erwachsenen orientiere und – horribile dictu – immer noch die Rechte von Kindern gegenüber den Alten einschränkt. Am konsequenten Ende steht die Forderung nach dem Wahlrecht ab dem ersten Lebensjahr. Sämtliche Grausamkeiten würden von dieser Welt verschwinden, wenn wir erst von Kindern regiert würden.

Man übersieht dabei einen feinen Unterschied, auf den Immanuel Kant einst aufmerksam machte: Den zwischen Glücksfähigkeit und Glückswürdigkeit. Mit der Glücksfähigkeit, also der Begabung, Freude wie auch Leid zu empfinden, sind wir von Natur aus ausgestattet. Die Glückswürdigkeit müssen wir uns im Laufe des Lebens erst erwerben. "Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein", forderte der Königsberger Philosoph. Das heißt, wir sollen die angeborene Unmündigkeit aus eigener Kraft überwinden, indem wir uns selber disziplinieren.

Die Freiheit, die sich in unseren Bürgerrechten ausdrückt, ist kein biologisches Merkmal der Spezies Mensch, sondern sie ist eine kulturelle Errungenschaft, sie ist gerade die Antwort auf unsere Natur. Sie resultiert daraus, das moralisch Gebotene zu erkennen und entsprechend zu handeln. Das erfordert Vernunft und insbesondere die Einsicht, das eigene Glücksstreben einem allgemeinen Rechtsbegriff zu unterwerfen.

Freiheitsrechte müssen kollektiv wie individuell immer wieder neu erworben werden. Weil wir das Gewohnte aber gerne für das Selbstverständliche halten, sind wir bereit, auch dort Rechte einzuräumen, wo ihre Bedingungen nicht erfüllt sind. Niemand von denen, die das Wahlrecht für Kinder fordern, würde aber zugleich das Strafrecht auf Säuglinge anwenden wollen. Denn Strafmündigkeit ist unvereinbar mit dem Glückseligkeitsprinzip.

Wenn wir aber Leidensfreiheit zum alleinigen Maßstab machten, dann würde das nach Kant den "sanften Tod" aller Moral bedeuten. Wozu sollte man in so einer Welt noch erwachsen werden wollen, wozu nach Autonomie und Unabhängigkeit streben? Wir nehmen der Kindheit Ziel und Zweck, wenn wir sie mit sämtlichen Freiheitsrechten ausstatten. Kinder würden am Ende zu unberührbaren Heiligen, umgeben von lächerlichen Erwachsenen, die vom Staat ein Taschengeld für ihren Kinderdienst beziehen. Lächerlichkeit ist aber gerade das Gegenteil von Würde. Das beginnt schon am Strand.

Es sei besser, sagte der englische Freiheitsrechtler John Stuart Mill, ein unglücklicher Sokrates zu sein als ein glückliches Schwein. In diesem Sinne ist eine unglückliche, vielleicht sogar mit Schmerzen verbundene Kindheit besser, als eine ohne Aussicht aufs Erwachsenwerden.

Matthias Gronemeyer, Jahrgang 1968, ist Philosoph, Autor und Publizist. Er lehrt an der PH Ludwigsburg. In seinem Buch "Profitstreben als Tugend?" (Marburg 2007) hat er sich mit den Notwendigkeiten und Grenzen des Kapitalismus auseinandergesetzt. Im Renneritz Verlag erschien unter dem Pseudonym M. Grabow sein Romandebüt "Hanna", in dem er von einer Liebe in Zeiten der Gentechnik erzählt.


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