Best of Weltmusik 2018

Beschwörende Stimme über der archaischen Zither

Mari Kalkun singt
Mari Kalkun gehört zu den wichtigen Vertreterinnen der estnischen Folkszene © Doris Joosten
Von Grit Friedrich |
Tausende Alben erscheinen jedes Jahr. Wie klang 2018 in den Ohren unser Kritikerin Grit Friedrich? Sie stellt ihre Weltmusikalben des Jahres vor. Auffallend eindringliche Musik ist dabei: aus Schottland, Estland und der Türkei.

The Breath
Album: Let the cards fall
Titel: All That you have been

Der Herbst brachte in diesem Jahr nicht nur ein Aufatmen nach dem heißen Sommer, sondern auch die balladesken Lieder von The Breath. "All That you have been" widmete die Band keinem Geringeren als Walter Benjamin, dem deutschen Philosophen und Kulturkritiker, der sich 1940 in Spanien das Leben nahm, er war dort auf der Flucht vor den Nazis gestrandet.
Ríoghnach Connolly singt keine Traditionals mehr. Es geht um Entwurzelung, gescheitete Lieben und nostalgische Erinnerungen an längst vergangene Kindheitssommer. Dabei schafft The Breath-Gitarrist Stuart McCallum die Basis, auf der Ríoghnach Connolly ihre hymnischen Lieder schreibt. Man hört Geschichten über Geschichte, Songkleinode wie ein Klagelied über die irische Massenemigration in den Hungerjahren. The Breath – Let the cards fall: Zweifellos eines der besten Alben des Jahres, auch wegen dieser suggestiven Stimme.

Mari Kalkun
Album: Ilmamötsan
Titel: Keelega Meelega

Mari Kalkun bewegt sich tastend durch den dichten Wald südestnischer Traditionen. Man hört oft nur ihre Stimme und die Kannel, eine griffbrettlose archaische Kastenzither. Ab und an kommen ein Akkordeon oder ein Kontrabass hinzu. "Ilmamõtsan" heißt wörtlich übersetzt "der Wald der Welt". Mari Kalkun besingt den Wald und unseren Globus als bedrohte Orte.
Introvertiert klingen diese Lieder, beschwörend und intensiv. Man entdeckt beim mehrmaligen Hören immer tiefere Schichten. Viele Lieder sind Freunden oder Familienmitgliedern gewidmet. Einige inspiriert von lokalen Geschichten, wie etwa dem estnischen Widerstand gegen sowjetische Besatzer. Die Überraschung lauert dann im letzten Song, hier hört man nicht nur Mari Kalkuns kleine Tochter im Hintergrund, sondern ein paar hoch über den Baumwipfeln schwebende Bläser. Schöner hätte dieses stimmige, einfache und trotzdem komplexe Album aus Estland nicht enden können.

Gaye Su Akyol
Album: İstikrarlı Hayal Hakikattir
Titel: Bağrımızda Taş

"Steine in unserer Brust, niemand trocknet die Tränen. Das ganze Land ist ein Nargile Kafe, und wir ersticken im Qualm." Wenn Gaye Su Akyol solche bedrückenden und auch hoch politischen Zeilen singt, hört man unweigerlich zu. Denn die selbstbewusste Türkin verpackt ihre Texte in dunkel schillernde Electro-Saz-Musik. Gaye Su Akyol schrieb diesmal nicht nur fast alle Lieder selbst, sie fungiert auch als Produzentin. Eine, die Surfgitarren liebt, schwebende Trompeten und unüberhörbar Vintage-Keyboards. Nichts wird auf Album İstikrarlı Hayal Hakikattir effekthaschend eingesetzt, alles steht im Dienste ihrer Songs. Mit Texten, die auch von unserer kaputten Welt reden.
Die türkische Sängerin Gaye Su Akyol bei einem Auftritt im Rahmen des Festivals Musicas do Mundo in Sines, Portugal.
Die türkische Sängerin Gaye Su Akyol auf dem portugiesischen Festival Musicas do Mundo in Sines.© Imago Stock & People
Dabei entstand mitten in Istanbul ein Album großer Gefühle zu orientalisch mäandernden Rhythmen und Melodien. Eine sinnliche Platte die hell leuchtet in der Dunkelheit, wie ein loderndes Feuer.
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