Bestandsaufnahme über Deutschland

Rezensiert von Hartmut Jennerjahn |
Was charakterisiert eine Nation, was ist typisch für ein Volk, worin unterscheidet es sich markant von anderen? Was begründet Mythen, Urteile und Vorurteile über den Nationalcharakter?
Der Anglist, Übersetzer und Schriftsteller Hans-Dieter Gelfert baut gleich im ersten Satz seines Buches falschen oder überzogenen Erwartungen vor, er wolle eine unumstößliche Definition der Deutschen bieten; denn: Für nahezu alles, was als nationaltypisch gelte, ließen sich Gegenbeispiele anführen. Er wolle nicht die nationale Identität klären, sondern ihm gehe es um Mentalität.

Mit Deutschland und den Deutschen würden anderswo gern als bevorzugte Stereotype verbunden: Fleiß, Autoritätshörigkeit, Militarismus, Nationalismus und Humorlosigkeit. Ein unbefangener Blick auf die Deutschen von heute lasse diese Klischees jedoch als offenkundig unhaltbar erscheinen.

In seinem Versuch, die Deutschen und ihre Mentalität zu beschreiben und zu deuten, bedient sich der Autor allerdings auch etlicher Klischees. Vor allem gegen Ende seines Buches schweift er zuweilen von seinem Thema ab, verliert sich dann in allgemein politischen Betrachtungen bis in die Verästelungen des deutschen Föderalismus und zur Debatte um die Stammzellenforschung.

Doch über weite Strecken behandelt Gelfert sein Thema in einem angenehm leichten Plauderton, vermeidet bedeutungsschwangeren Ballast, setzt gelegentlich auf milde Ironie:

"Kein anderes Volk Europas scheint so unablässig nach der Bestimmung des eigenen Wesens gesucht zu haben, was für sich schon als typisch deutsch gilt."

Die deutsche Kulturgeschichte - Literatur, Kunst, Musik, Film, Philosophie bieten Gelfert eine Fülle von Belegen für das, was mit deutschen Eigenschaften verbunden wird oder aus deutschem Blickwinkel als charakteristisch gilt. Dazu interpretiert er Begriffe und Begriffspaare, die erklären sollen oder können, was es mit den Deutschen auf sich hat, was sie bei aller regionaler Vielfalt gemeinsam geprägt hat.

Aber was ist nun typisch deutsch? Gelfert hat dazu 30 "Urworte" ausgewählt: von Heimat und Gemütlichkeit über - selbstverständlich - Fleiß und Pflicht bis zu Weihnacht und Weltschmerz. Vor allem im 19. Jahrhundert, zumal bei den Romantikern, wird er fündig, aber auch sonst finden sich reichlich Beispiele aus deutscher Kultur- und Geistesgeschichte.

Die Wörter Treue und Redlichkeit seien ein Zwillingspaar, das die Deutschen adoptiert hätten. Hier schlägt Gelfert einen Bogen von der Nibelungentreue, die als Gipfel deutscher Treue gegolten habe, bis zum Treueid, der noch im Widerstand gegen Hitler eine lähmende Wirkung hatte:

"Früher war oft von "deutscher Treue" die Rede, als sei sie qualitativ etwas anderes als die Treue anderer Nationen."

In seiner knappen Beschreibung und Deutung solcher "Urworte" gelingen Gelfert einige Passagen, die vergnüglich zu lesen sind, so als habe er sie mit einem Augenzwinkern formuliert. "Tiefe" ist ein solches Wort. Der Drang nach Tiefe reiche weit zurück in der deutschen Kulturgeschichte, sei zum "Markenzeichen des deutschen Denkens schlechthin" geworden:

"Je höher das politische Deutschland strebte, um so tiefer gründelten seine Denker und Dichter, wobei jede Ente für einen Schwan gehalten wurde, wenn sie nur genügend Schlamm vom Grunde aufrührte; denn alles Dunkle musste tief sein."

Innigkeit, Einfalt, Sehnsucht, Ehrfurcht - alles, was das Gemüt bewegt, unterzieht der Autor einer freundlich-kritischen Prüfung. Die deutsche Gesellschaft und ihre Kultur seien - seit der Romantik - geprägt vom Verlangen nach Geborgenheit. Der Kult der Innerlichkeit, die Verbindung von Geist und Gemüt hätten eine lange Tradition. Und hier findet auch der Wald seinen Platz, für Romantiker der Inbegriff einer heilen Sphäre, eine Stätte der Andacht:

Einen Widerspruch löst Gelfert allerdings nicht auf. Einerseits sieht er das Charakterbild der Deutschen wesentlich durch Angst und Sehnsucht bestimmt. Andererseits hält er die Deutschen inzwischen für "eines der nüchternsten Völker der westlichen Welt".

Der Autor, bis zum Frühjahr 2000 Professor für Englische Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, erhebt nicht den Anspruch, uns den Charakter der Nation zu erklären. Er regt auf unterhaltsame Weise dazu an, über deutsche Eigenheiten und Traditionen nachzudenken, über historische und kulturelle Prägungen, die uns nicht immer bewusst sind, aber unser Denken und Fühlen beeinflussen.


Hans-Dieter Gelfert:
Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind
Beck'sche Reihe, München 2005.