"Jeder sollte zweimal aus seinem Fenster klettern"
Von seinem Debütroman wollte Jonas Jonasson eigentlich nur 3000 Exemplare verkaufen, mehr hielt er für unrealistisch. "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" verkaufte sich dann aber 14 Millionen Mal. Uns verrät der schwedische Autor im Interview, wie alles anfing.
Deutschlandradio Kultur: Ärgert Sie das eigentlich, wenn sich, sobald man sich mit Ihren Büchern beschäftigt, erst einmal immer nur die Zahlen in der Vordergrund drängen?
Jonas Jonasson: So habe ich noch nie darüber nachgedacht. Vielleicht sollte ich das aber mal tun. Ich erhalte aber aus ganz unterschiedlichen Richtungen genug Anerkennung. Auf jeden Fall kann ich mich nicht beschweren.
Deutschlandradio Kultur: Wie gehen Sie um mit diesem Erfolg: Wenn Sie weniger als eine Million verkaufen, müssen Sie das ja fast schon als Misserfolg empfinden. Können Sie das einfach ignorieren?
Jonasson: Man hat mir diese Frage schon öfter gestellt, ob ich sehr enttäuscht bin, dass sich von "Der Analphabetin" nur fünf Millionen Exemplare verkauft haben, weil sich von "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" ja acht Millionen Exemplaren verkauft haben. Wie mir das gelungen ist, das weiß ich nicht, aber was ich mit diesem Buch erreichte, das lässt sich wahrscheinlich nie mehr wiederholen.
Deutschlandradio Kultur: Dachten Sie jemals, so erfolgreich zu werden?
Jonasson: Als ich endlich die Energie aufbrachte, mein Manuskript zu beenden, hatte ich gerade meine Medienagentur verkauft und war finanziell unabhängig. Aber ich hatte plötzlich nichts mehr zu tun. In der westlichen Welt ist es doch meistens die erste Frage, wenn sich zwei Fremde begegnen: "Was machst du beruflich?" Und ich war eine Weile ohne Beruf und befand mich in einer Identitätskrise. Und so sagte ich mir: "Wenn ich endlich dieses Manuskript beende und es schaffe, dass es veröffentlicht wird, dann kann ich mich Schriftsteller nennen."
Dann habe ich endlich wieder eine eigene Identität. Und so googelte und googelte ich und fand heraus: Wenn es mir gelänge, 3000 Bücher zu verkaufen - mehr hielt ich für unrealistisch - dann würde mich der Verlag bitten, ein weiteres Buch zu schreiben. Dies würde meine neue Persönlichkeit als Autor dann absichern. Und so fand ich endlich die Kraft, das Manuskript zu beenden. Der Unterschied zwischen den 14 Millionen Exemplaren, die ich verkaufen konnte und den 3000, die nötig waren, ist in meinen Augen einfach nur ein schöner Bonus.
"Geschichten mit viel Tempo"
Deutschlandradio Kultur: Sie haben als Journalist begonnen. Warum hat der Journalismus nicht mehr gereicht?
Jonasson: Nachdem ich meine Gesellschaft verkauft hatte und kein Redakteur, Produzent etc. mehr war, blieb ich nur noch ein Ex-Journalist - und damit kann man sich ja schlecht identifizieren..
Deutschlandradio Kultur: Was haben Sie vom Journalismus gelernt?
Jonasson: Ich möchte meine Geschichte mit viel Tempo voran bringen. Sie werden nur selten erleben, dass ich auf drei oder vier Seiten den Sonnenuntergang beschreibe. Das ist nicht mein Stil und kommt aus meiner Vergangenheit als Nachrichten-Journalist.
Deutschlandradio Kultur: Gab es ein besonderes Leseerlebnis, Bücher die für Sie wichtig waren, wo Sie gesagt haben: Das will ich auch, ich will Romane schreiben?
Jonasson: Ich war immer ein Autor, seitdem ich 18 bin. Ich war aber ein seltsamer Autor, einer von denen, der nie ein Buch schreibt, sondern nur Artikel. Ich spürte es aber tief in mir - und so war es nur eine Frage der Zeit. Ich ließ jedoch zu, dass mich mein Leben kontrollierte und ich ließ mich im Strom treiben.
Zunächst ging ich auf die Universität, dann zu einer Zeitung, dann zu einer Medienagenur. Ich dachte nie groß darüber nach. Eben noch war ich erst 18 Jahre alt und gefühlte 20 Minuten später schon 45 oder so.
Glücklicherweise rannte ich eines Tages zu schnell und mein Körper und meine Seele signalisierten mir: Stopp. Ich dachte, ich bekäme einen Herzinfarkt. Ich ging dann zum Arzt und der stellte mir drei Kontrollfragen, zu meinen Arbeitszeiten undsoweiter. Danach meinte er zu mir: "Herr Jonasson wir werden alle nur möglichen Tests machen, allerdings bin ich ziemlich sicher, dass Sie keine besonderen Resultate zeigen werden. Eigentlich ist alles mit ihnen Ordnung. Bis auf den Umstand, dass Sie sich zu Tode arbeiten." So begann meine neue Identität als Autor.
"Das Leben ist eine mentale und körperliche Reise"
Deutschlandradio Kultur: Brüche scheinen in Ihrem Leben überhaupt eine große Rolle zu spielen und Sie haben darum nie eine Geheimnis gemacht. Das Zerbrechen der Familie, die Scheidung von Ihrer Frau, dann der Burn-out unter dem Sie litten. Gingen Sie so offen damit um, weil das Erfahrungen sind die auch anderen Menschen machen oder war das einfach für Sie wichtig diese Offenheit?
Jonasson: Das Burn-out entspricht der Wahrheit. Damit verletzte ich niemanden. Das Familiendrama, die Scheidung und der Umstand, dass ich seit sieben Jahren alleine mit meinem wunderbaren Sohn lebe, all das ist komplizierter. Da sind ja auch andere Menschen von betroffen, in erster Linie mein Sohn. Mir geht es darum, dass er sich sicher fühlt. Daher rede ich weniger darüber. Jetzt ist er fast zehn Jahre alt und ich kann, so wie jetzt gerade mit ihnen, darüber reden.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben Sie Schriftsteller?
Jonasson: Man sollte im Leben mindestens zweimal aus seinem eigenen Fenster klettern. Das Leben ist eine mentale und körperliche Reise oder sollte es zumindest sein. Das sehen Sie ja in all meinen Büchern: in den drei, die bereits veröffentlich wurden und dem vierten Buch, das demnächst fertig wird. Vielleicht lebt jemand auch in einem Schloss aus Gold.
Aber wenn er aus seinem Fenster klettert und sich nur auf einem kleinen Bauernhof wiederfindet, sagt uns das etwa, man sollte nicht aus seinem eigenen Fenster steigen? Nein, auf keinen Fall, denn auf dem Nachbarhof lebt der interessanteste Mensch überhaupt und vielleicht entsteht daraus ja etwas... wer weiß... aber genau das macht das Leben aus. Wer einfach nur stehen bleibt, der hat kein Leben und am Ende vielmehr Angst vor dem Tod.
Deutschlandradio Kultur: "Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind": Ihr aktuelles Buch ist ein Schelmenroman. Was interessiert Sie an so einer Figur?
Jonasson: Nun dieser "Mörder Anders" ist ein Werkzeug, ein Mittel zum Zweck. Es geht mir ja um drei höchst unmoralische Ideen, die unseren Blick auf die Menschheit verändern. Mich interessiert besonders, wer wir sind? Dabei versuche ich über die Menschen nicht zu urteilen. Das überlasse ich dem Leser. "Mörder Anders" begibt sich auf eine körperliche und geistige Reise. Dabei mache ich mich über die Bibel lustig, aber nicht über Religion. Wenn "Mörder Anders" als ein zunächst schlechter Mensch am Ende auf Jesus trifft, dann erschaffe ich so einen Konflikt.
"Manchmal ist das Leben verrückter als die Realität"
Deutschlandradio Kultur: Ich hatte fast den Eindruck, es handelt sich um ein Jugendbuch. Haben Sie ein bestimmtes Lesepublikum vor Augen, wenn Sie schreiben?
Jonasson: Nein. Ich glaube der Erfolg den ich bisher hatte, liegt darin, dass mein Schreibstil die ganz normalen Leser anzieht, junge wie alte Menschen, aber eben auch Männer. Buchhändler haben mir das gesagt, weil eigentlich mehr Frauen als Männer lesen. Bei meinen Büchern ist das Verhältnis aber 50/50. Ich höre das gerne, wenn Sie meinen, mein Buch richte sich besonders an junge Menschen, aber eben auch an Ältere.
Deutschlandradio Kultur: Wie finden Sie ihre Figuren?
Jonasson: Ich habe immer in meinem Leben Figuren beobachtet oder Menschen studiert. Ich sammele auch gewisse Lebenssituationen, die ich beobachtet habe, und speichere das irgendwo in meinem Gehirn ab. Und dann vielleicht 20 Jahre später entsteht daraus Literatur. Es gibt da einen Mann auf der Insel Gotland, auf der ich lebe. Ich wollte bei ihm ein Huhn kaufen und er richtet Hühner für Profi-Hühner-Rennen ab.
Er betreibt aber auch eine Go Cart Strecke und ein Museum. Er verfügt über ein Diplom in Wirtschaft und ist ein Judolehrer. Außerdem ist er Hypnotiseur und er komponiert klassische Musik. Natürlich habe ich das alles über ihn "eingesammelt". Aber in meinen Büchern kann ich nicht auf alles zurückgreifen. Manchmal ist das Leben verrückter als die Realität: bigger than life. So muss ich mich oft sogar zurück halten, um glaubhaft zu bleiben.
"Ein Moment, wo das Lachen dann kippt"
Deutschlandradio Kultur: Die Figuren sind skrupellos und brutal. Welche Funktion hat die Gewalt?
Jonasson: Ich mag es, die Zuschauer in Situationen zu versetzen, in denen sie sich nicht mehr wohl fühlen. Daher versuchte ich meine Protagonisten bei allem, was sie tun, dennoch sympathisch zu zeichnen. Nehmen Sie doch einmal den 100-Jährigen aus meinem ersten Buch. Die Leser lieben ihn. Dabei tötet er Menschen, er stiehlt Geld und benimmt sich oft zutiefst unmoralisch.
Warum also lieben wir ihn und die anderen Charaktere? Weil sie Ja zum Leben sagen und aus ihrem eigenen Fenster steigen. Natürlich kann man einen Mörder nicht lieben, aber das überlasse ich dem Leser. Das ist dann sein Problem. Er muss sich dann in Therapie begeben. Mir geht es dabei nicht um eine Message. Als ich in diesem Buch die dritte von sechs sehr unmoralischen Ideen aufschrieb, war ich erstaunt, denn plötzlich geschah im richtigen Leben etwa ähnliches. Eine Zeitlang fühlten auf Facebook viele User mit Cecilia der Löwin mit. Das war eine Löwin in Zimbabwe, die von einem amerikanischen Zahnarzt getötet wurde. Alle regten sich fürchterlich darüber auf. Auf den Bildern war diese Löwin drei oder vier Jahre alt, aber nicht 13 - also in dem Alter, indem sie erschossen wurde. Und für eine Weile beschäftigte sich die ganze Welt mit Cecilia der Löwin, bis das tragische Schicksal des dreijährigen Ilan, der tot an einem Strand lag, plötzlich in den Mittelpunkt rückte.
Zu diesem Zeitpunkt wussten alle, dass es schon Tausende von toten Flüchtlingen gegeben hatte, die vor Armut und Gewalt flohen und auf diesem Weg im Meer ertranken. Aber erst als Cecilia Teil 2, also Ilan auftauchte, konnten wir es erfassen. Auf solche Ereignisse mache ich mit meiner distanzierten, humorvollen Art aufmerksam. Für mich ist das ein Moment, wo das Lachen dann kippt, hinter dem Humor etwas anderes auftaucht. Meine Leser verstehen das.
Deutschlandradio Kultur: Kann man das Böse besiegen indem man darüber lacht?
Jonasson: Wenn ich Humor als Werkzeug benutze, bekomme den Leser dazu, auch zu reflektieren. Wenn ich mindestens dazu beitragen könnte, dass die Menschheit nicht immer so schnell ihre Fehler und ihre Geschichte vergisst, dann wäre ich darauf stolz.
(mcz)