Rätsel um neuen Roman von Harper Lee
Der Roman "Wer die Nachtigall stört" der US-Autorin Harper Lee verkaufte sich über 40 Millionen Mal. Jetzt - 50 Jahre später - will die mittlerweile 88-Jährige ein Nachfolge-Manuskript veröffentlichen. Doch nicht nur der Zeitpunkt wirft Fragen auf.
Sie saß jahrelang an dem einen Manuskript und schrieb es immer wieder um. Eine frustrierende Erfahrung oder wie sie es nannte: eine "hoffnungslose Periode". Wenn sie nachdenken wollte, ging sie Golf spielen. Auf dem Platz war sie mit ihren Gedanken allein.
Es war eine herbe Zeit im amerikanischen Süden Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre, in der kleinen Stadt Monroeville in Alabama, in der Harper Lee aufgewachsen war, ein Ort wie das Maycomb ihres Buches über den alltäglichen und tödlichen Rassismus.
"Maycomb war eine alte müde Stadt damals im Sommer 1932. Im Jahr der großen Wirtschaftskrise. Und heiß war es. Die Kragen der Männer waren schon um 9 Uhr früh wie aus dem Waschkessel gezogene nasse Stricke."
"To Kill a Mockingbird" - auf Deutsch "Wer die Nachtigall stört" - wurde zu einem modernen Klassiker. Noch immer werden jedes Jahr weltweit mehr als eine Million Exemplare verkauft. Die Verfilmung mit Gregory Peck in der Hauptrolle gewann drei Oscars.
Urheberrechte für den Roman abgeschwatzt
Die Tantiemen? Mehrere Millionen Dollar im Jahr, wie aus einer Anklageschrift hervorgeht, mit der die Schriftstellerin 2013 einen seltenen Fall von Diebstahl anzeigte. Ihr langjähriger Agent hatte ihr die Urheberrechte für den Roman abgeschwatzt. Und sie, von den Folgen eines Schlaganfalls gezeichnet, hatte das entscheidende Dokument angeblich unterschrieben. Bloß erinnerte sie sich nicht daran. Der Fall wurde gütlich beigelegt.
Was in Deutschland unmöglich wäre, ist in den USA durchaus legal. Solange alles mit rechten Dingen passiert. Was im Fall der alten Dame, inzwischen 88, die dem Vernehmen nach nur noch schlecht sieht, schwerhörig ist und in einem Heim wohnt und betreut wird, kaum der Fall sein kann.
Weshalb das Vorhaben des New Yorker Verlags HarperCollins Fragen aufwirft, der im Juli nach fast sechs Jahrzehnten einen unveröffentlichten Roman mit dem Titel "Go Set a Watchman" publizieren will. Angeblich Mitte der 50er-Jahre vor dem Bestseller geschrieben, soll die Geschichte inhaltlich eine Fortsetzung des Erstlingswerks sein.
Die Nachricht machte Schlagzeilen, ganz anders etwa als die E-Book-Veröffentlichung und die Hörbuch-Ausgabe im Frühjahr des letzten Jahres. Lee hatte das angeblich auch sanktioniert und ließ sich in einer Pressemitteilung so zitieren: "Ich bin altmodisch. Ich liebe staubige alte Bücher und Bibliotheken. Dies ist 'Nachtigall' für eine neue Generation." Vorgetragen von der Schauspielerin Sissy Spacek im Tonfall der Südstaaten:
"Maycomb was an old town. But it was a tired old town, when I first knew it. In rainy weather the streets turned to red slop. Grass grew on the sidewalks. The court house sagged in the square..."
Steckt hinter dem Vorgehen Kalkül?
Warum so viel Aktivität nach so vielen Jahren bewusster Zurückhaltung? Keiner weiß es. Zumal Harper Lees einzige Vertraute, ihre Schwester Alice, im November im Alter von 103 Jahren starb. Sie war es, die vor Jahren angedeutet hatte, dass ihre Schwester nicht mehr mit Journalisten redete, weil die sie falsch zitierten. Und weshalb sie keinen zweiten Roman publiziert hatte: "Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie den Gipfel erreicht haben? Würden Sie nicht das Gefühl haben, Sie wetteifern mit sich selbst?"
Vor drei Jahren gab Alice Lee altersbedingt ihre Ratgeberrolle auf. Seitdem kommt die Harper-Lee-Industrie auf Touren. Rechtsstreitigkeiten inklusive. Wie die mit dem Museum von Monroeville, das sich angeblich zu viele Freiheiten beim Auswerten der Lebensgeschichte der Tochter dieser Stadt herausgenommen hat.
Harper Lees Biograf Charles Shields sieht denn auch nur einen Grund, wieso die Verlagswelt auf einmal die Nachtigall trapsen hört: den Tod von Alice. "Ich bezweifle ganz stark, dass sie dieses Projekt zugelassen hätte", sagte er.