Die Erstausstrahlung des Features war am 4. April 2022.
Verlage
2021 wurden in Deutschland 273 Millionen Bücher verkauft. Lässt sich planen, welches ein Bestseller wird? © Getty Images / iStock / Frances Coch
Wie Bestseller den Buchmarkt prägen
30:20 Minuten
Die Kunden entscheiden, ob ein Buch ein Bestseller wird, heißt es. Doch Verlage unternehmen einiges, um Kunden in die gewünschte Richtung zu lenken. Schließlich erwirtschaftet das erfolgreichste Prozent der Bücher die Hälfte des Branchenumsatzes.
Ein ganz normaler Verkaufstag an der Kasse einer großen Buchhandlung. Innerhalb weniger Minuten wandern Bücher aller möglichen Sparten über die Ladentheke: von Romanen und Krimis über politische Sachbücher und Biografien bis hin zu Ratgebern oder Graphic Novels. Rund zweieinhalb Millionen Titel sind in Deutschland lieferbar, pro Jahr kommen etwa 70.000 Neuerscheinungen hinzu. Wie da nur den Überblick behalten, was davon sich zu lesen lohnt?
"Diese persönlichen Empfehlungen - also diese Kärtchen, die wir in den Büchern haben -, die sind tatsächlich echt", sagt Ute Bauer, Leiterin der Hugendubel-Filiale im Berliner Bezirk Steglitz. Zu dem Unternehmen gehören bundesweit rund 150 Niederlassungen.
"Jeder Buchhändler, der ein Buch gelesen hat und davon begeistert ist, kann in ein Buch so ein Kärtchen stecken. Auch, wenn es ein ganz altes Buch ist, das er vielleicht für sich gerade irgendwie neu entdeckt hat. Dann bestellen wir davon einen Stapel, stecken dieses Kärtchen in diese Bücher und die Kunden nehmen das gern an. Es gibt inzwischen tatsächlich schon Kunden, die bestimmten Mitarbeitern folgen. Das kann man ja oft an der Schrift erkennen, welcher Mitarbeit so ein Kärtchen geschrieben hat."
Die Bestseller-Wand als Orientierungspunkt
2021 wurden in Deutschland 273 Millionen Bücher verkauft, verteilt auf lediglich rund eine Million verschiedene Titel. Diese Zahlen machen vor allem eines deutlich: Für das tägliche Geschäft spielen die persönlichen Tipps eines Buchhändlers oder einer Buchhändlerin eine eher untergeordnete Rolle. Viel wichtiger sind die Bestseller – Titel, die sich hunderttausend- oder gar millionenfach verkaufen. Filialisten wie Hugendubel, Thalia & Co. haben in ihren Läden eigens auffällig gestaltete Regale installiert.
"Bei uns wird jeden Donnerstag die Bestseller-Wand aktualisiert", erklärt Ute Bauer. "Wir bekommen dann über unsere Computersysteme die neuen Plakate zugeschickt, die wir uns dann auf unseren Farbdruckern ausdrucken, damit es hübsch aussieht. Und dann gibt es dazu eine Liste, anhand derer wir die Wand neu bestücken, sodass wir fürs Wochenende immer die aktualisierten Listen zeigen können. Und es gibt auch wirklich Kunden, die den Laden betreten und gleich fragen: 'Wo ist denn Ihre Bestseller-Wand?' Und es ist für uns dann auch tatsächlich sehr praktisch, die Kunden dann da hinzuschicken. Das ist ein ganz wichtiges Tool zur Orientierung in unserer Buchhandlung."
Bestsellerlisten sind über 100 Jahre alt
Die ersten Bestsellerlisten für Bücher wurden Ende des 19. Jahrhunderts nahezu zeitgleich von zwei Fachzeitschriften in Großbritannien und den USA veröffentlicht. In Deutschland war es 1927 die Wochenzeitung „Literarische Welt“, die als erste Publikation eine Aufstellung über die meistgekauften Bücher abdruckte. Heutzutage gilt die Buch-Bestsellerliste des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" als bekannteste ihrer Art in unserem Sprachraum. Erstmals veröffentlicht wurde sie 1961.
"Man wollte wissen, über welche Sachthemen sich die Leute informieren, und auch, was gelesen wird", sagt Thomas Wilking,
Chefredakteur des Fachmagazins "Buchreport".
Chefredakteur des Fachmagazins "Buchreport".
1971 hat der SPIEGEL das Branchen-Fachblatt damit beauftragt, die Verkaufszahlen zusammenzutragen und in Bestsellerlisten zu übertragen. Als Grundlage dienten die Angaben von rund 500 repräsentativ ausgewählten Buchhandlungen.
"Man hat im Grunde genommen einen gewissen Einblick in die Gesellschaft, wenn man weiß, was die Leute lesen. Das ist so ähnlich, wie wenn man irgendwo in eine Wohnung kommt und sieht, was da im Bücherregal steht. Das war so ein bisschen die Ursprungsintention, um sich auch letztlich ein gesellschaftliches Abbild anhand von Buch-Bestsellerlisten zu machen."
Hörbücher, Taschenbücher - die Kategorien nehmen zu
Seit 2015 hat Buchreport das Sammeln der Verkaufszahlen an das Baden-Badener Marktforschungsunternehmen media control übertragen. In einer offiziellen Mitteilung heißt es:
"Die Bestsellerlisten werden durch elektronische Abfrage in den Warenwirtschaftssystemen buchhändlerischer Verkaufsstellen aus 6550 stationären und E-Commerce-Verkaufsstellen in Deutschland ermittelt. Die Verkaufsstellen umfassen Sortimentsbuchhandel, Onlineshops, Bahnhofsbuchhandel, Kauf- und Warenhäuser sowie Nebenmärkte, unter anderem Elektrofachhandel und Drogerieketten mit Medienangebot. Jeweils am Montagmittag werden die vorliegenden Verkaufsdaten der Vorwoche ausgewertet."
Ursprünglich war die Spiegel-Bestsellerliste unterteilt in die Segmente Belletristik und Sachbuch. 1980 wurden die Hardcover-Hitparaden durch separate Taschenbuch-Übersichten ergänzt. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Spiegel-Bestsellerlisten hinzu, unter anderem für Hörbücher, Jugendliteratur und Ratgeber.
Für Verlage, deren Titel es in die jeweiligen Top 20 schaffen, sind die Verkaufscharts ein wichtiger Gradmesser:
"Durch die Bestsellerlisten sehen sie, dass ihre Bücher verkauft werden oder nicht verkauft werden", sagt Wilking.
"Das heißt, sie können danach auch disponieren. Wenn also ein Titel auf der Spiegel-Bestsellerliste ist, schaut man tunlichst, ob noch genug am Lager ist oder ob man bestellt. Und das geht ja auch nicht von heute auf morgen. Ein weiterer Punkt ist, der Verlag wirbt damit, dass ein Buch ein Spiegel-Bestseller ist, um eben weitere Kunden zu animieren, auch das Buch zu kaufen. Es ist aber auch ein Argument, um ein Buch ins Ausland zu verkaufen. Falls es ein deutscher Autor ist, wo man die Rechte dran hat, um Auslandslizenzen zu verkaufen. Da ist es natürlich ein gutes Siegel, wenn man sagt: ‚Das ist ein Spiegel-Bestseller‘."
Kochbücher werden nicht berücksichtigt
Doch die Spiegel-Bestsellerliste ist keine reine Verkaufsstatistik. Andernfalls hätten in den Charts vor allem Koch- und Schulbücher die Nase vorn. Um das auszuschließen, gibt es feste Regeln:
"Nicht berücksichtigt werden Nachschlagewerke, Kompilationen, Zusammenstellungen bereits veröffentlichter Texte, Schulbücher, Ratgeber (zum Beispiel Kochbücher, Medizinratgeber, Fitnessanleitungen), Reiseführer, Comics sowie Geschenkbücher und Bildbände. Es muss sich um eine Original- oder deutsche Erstausgabe in gedruckter Form handeln. Kinder- und Jugendbücher werden in der Regel nicht berücksichtigt. Wohl aber Bücher, die über die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen hinaus in großem Umfang auch Erwachsene erreichen: so genannte All-Age-Titel, mit der Altersangabe 'ab 14 Jahre'."
Die Spiegel-Bestsellerlisten basieren auf den unbestechlichen Warenwirtschaftssystemen der angeschlossenen Buchverkaufsstellen. Dennoch kann man als Verlag mitunter durch geschicktes Taktieren dafür sorgen, dass es ein eigener Titel in die TOP 20 schafft. Dies funktioniert allerdings nur dann, wenn sich das Buch gleichermaßen für die Belletristik- wie für die Sachbuch-Hitparade eignet. Das ist etwa bei einer erzählenden Biografie der Fall, die der Verlag womöglich eher für die Warengruppe Sachbuch anmeldet. Denn um hier auf einem der oberen Plätze zu landen, müssen deutlich weniger Exemplare verkauft werden als im Bereich der Belletristik.
"Wir prüfen das aber auch noch mal. Weil Verlage manchmal Bücher aus unserer Sicht anders einordnen als wir das, wenn wir das Buch in der Hand haben, machen würden", sagt Wilking. "Insofern ist das nicht nur eine Knopfdruck-Geschichte, sondern wir gucken uns die Bücher auch genau an."
Im Januar kommt man leichter auf die Bestsellerliste
Auch der Veröffentlichungszeitpunkt kann beeinflussen, ob es ein Buch auf die Bestsellerliste schafft. Im eher verkaufsarmen Januar beispielsweise ist das deutlich einfacher als in den Wochen des boomenden Weihnachtsgeschäfts. Denn letztlich ist ein Bestseller nichts anderes als ein Betterseller – also ein Buch, das sich in einem bestimmten Zeitraum besser verkauft als andere.
Eine besondere Form der Bestseller sind die so genannten Longseller.
"Ein Longseller wäre ein Buch, das sich über einen sehr langen Zeitraum sehr gut verkauft", erklärt Elmar Weixlbaumer, Geschäftsführer des Wiener Goldegg Verlages. Weixlbaumer ist außerdem Autor des Buches „Bestseller – Insiderwissen für Buchmarketing“.
"Es gibt vom Spiegel zum Beispiel noch die Jahreslisten, welche Bücher sich im vergangenen Jahr sehr gut verkauft haben. Das würde man dann als Longseller bezeichnen. Es gibt vom Hauptverband des Österreichischen Buchhandels sehr schöne Preise, das Goldene Buch und das Platinene Buch. Das gibt’s in Deutschland leider nicht. Da werden dann über den gesamten Zeitraum des Buches die Verkaufszahlen gemessen. Und ab 50.000 Stück bekommt man ein Goldenes Buch verliehen. Das wäre dann ein Longseller."
Ein Prozent der Bücher machen 50 Prozent des Umsatzes
In seinem eigenen Werk zum Bestseller-Marketing präsentiert Elmar Weixlbaumer Daten aus dem Jahr 2018. Damals erschienen auf dem deutschen Buchmarkt knapp 25.000 Romane. Nur 118 davon gelangten auf die Bestsellerlisten. Das war weniger als ein halbes Prozent. Ein ähnlich drastisches Bild ergibt sich beim Blick auf die reinen Wirtschaftszahlen.
"Ein Prozent der in Deutschland angebotenen Buchtitel machen fünfzig Prozent des Umsatzes aus. Und der überragende Großteil, fast neunzig Prozent der derzeit erhältlichen Bücher, schaffen keine hundert Stück zu verkaufen."
Dennoch gilt: Selbst ein Titel, von dem weniger als hundert Exemplare abgesetzt werden, kann es auf eine Bestsellerliste schaffen – wenn auch nicht auf die des Spiegels. Wohl aber in die Hitparade von Online-Händlern wie Amazon. Auch der Versandhändler misst die Verkäufe und sortiert die Bücher nach dieser Reihenfolge.
Bestseller für eine Stunde
"Das Bemerkenwerte ist, dass Amazon das jede Stunde macht. Also nicht jede Woche oder alle 14 Tage, wie andere Listen, sondern wirklich jede Stunde wird abgerechnet", unterstreicht Weixlbaumer.
"Das kann man EDV-technisch natürlich viel einfacher machen, wenn es nur ein einziger Shop ist. Und es hat auch für die Autoren den Reiz, den Effekt, dass innerhalb einer Stunde ja nicht so viele Bücher verkauft werden. Da gibt es dann immer wieder so Geschichten, dass manche Autoren ein bisschen Geld in die Hand genommen haben und inerhalb einer Stunde ein paar hundert Bücher gekauft haben und damit dann Nummer eins bei Amazon geworden sind. Das geht natürlich, weil innerhalb einer Stunde ja nicht so viel Umschlag passiert wie innerhalb einer ganzen Woche."
Kein Wunder also, dass viele Trainer, Vortragsreisende und Keynote-Speaker damit prahlen, mit ihren Büchern bereits auf der Amazon-Bestsellerliste gestanden zu haben. Die Spiegel- Bestsellerliste sei in dieser Hinsicht deutlich authentischer, sagt Weixlbaumer.
"Damit man diese Messungen beeinflusst, wenn das 86 Prozent des Buchhandels sind, muss ich wirklich irgendwo 10.000 Bücher im Einzelhandel kaufen. Das ist wirklich extrem kostspielig. Es gibt Gerüchte, dass das reiche Menschen schon mal gemacht haben. Wenn man rechnet: Ein Buch kostet zwanzig Euro und der kauft zehntausend Stück, dann sind das 200.000 Euro. Wenn man das macht, hätte man die Liste manipuliert. Es ist auch wieder nicht manipuliert, weil diese Bücher dann ja auch tatsächlich gekauft wurden. Die sind ja dann wirklich über die Theke gegangen."
Im November 2020 gelang Dirk Rossmann ein spektakulärer Erfolg: Der Chef der Drogeriemarktkette landete mit dem Klima-Thriller „Der neunte Arm des Oktopus“ auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste. Er hatte sein Buch einfach in den mehr als 2000 eigenen Rossmann-Filialen auffällig präsentiert. Zusätzlich gab es eine aufwendige Werbekampagne.
"Es ist vermutlich der in der Geschichte des deutschen Buchhandels krasseste Fall von Eigenmarketing, der jemals passiert ist", sagt Elmar Weixlbaumer.
"Die Rechnung ist aufgegangen: Das Buch wurde so irre promoted, dass es lange Zeit Nummer eins der SPIEGEL-Bestsellerliste war. Das zieht natürlich auch nach sich, dass viele Menschen, die sich an solchen Listen orientieren, wiederum das Buch gekauft haben, denn es war ja Nummer eins. Da kommt der Herdentrieb des Konsumenten ins Spiel, und dadurch ist es dann auch längere Zeit auf Nummer eins geblieben."
Der "Matthäus-Effekt": Wer hat, dem wird gegeben
Eine entscheidende Rolle beim Verkauf spielt der so genannte Matthäus-Effekt. Er bezieht sich auf einen Satz aus dem Matthäusevangelium, in dem es heißt: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe.“
Übertragen auf den Buchmarkt bedeutet dies: Hat es ein Titel erst einmal in eine Bestsellerliste geschafft, bleibt er dort wahrscheinlich eine ganze Weile. Allein die Präsenz des Buchs in den Charts sorgt dafür, dass noch mehr Exemplare verkauft werden. Das gilt nicht nur für den einzelnen Titel, sondern auch für weitere Bücher des Autors.
"Wir haben Studien dazu gemacht, inwieweit Bücher von Autoren, die bereits erfolgreich sind, wieder erfolgreich werden. Und da hat sich herausgestellt, dass das zu neunzig Prozent den Erfolg eines Buches definiert: Wenn es von einem Autor Bücher gibt, dann ist dieser Autor wieder erfolgreich", so Weixlbaumer.
"Nur ganz wenige Erstlingsautoren haben es auf die Bestsellerlisten geschafft. Der Großteil hatte irgendwas zwischen zehn und dreißig Bücher bereits am Markt. Es ist also ein Markt von alteingesessenen Autoren, der von diesen auch belegt wird."
Was Bestseller wird, entscheiden die Kunden
Ein Erstlingswerk als Bestseller ist also eher die Ausnahme. Nur: Wie entsteht der erste Verkaufserfolg, der weitere nach sich zieht? Durch teure Werbekampagnen oder cleveres Marketing des Verlags? Kurzum: Lässt sich ein Bestseller planen?
„Es ist völlig egal, was Sie als Verlag machen. Das kann immer nur dazu dienen, dass das Buch im Handel in ansprechender Menge draußen liegt und dass Sie einige verkaufsfördernde Maßnahmen ergreifen“, sagt Julia Schade, Programmleiterin des Bereichs „Unterhaltung Belletristik und Sachbuch“ bei den S. Fischer Verlagen aus Frankfurt am Main.
"Aber ob es ein Bestseller wird, das entscheidet der Kunde draußen. Denn ein Bestseller wird nur ein Buch, das ganz, ganz viel Empfehlungen kriegt von den Menschen untereinander. Dass Sie also hergehen und sagen: 'Ich habe ein tolles Buch gelesen, das musst du dir auch kaufen!' So entstehen Bestseller."
Erstmal im Verlag überzeugen
2016 erschien bei S. Fischer die deutsch-italienische Familiengeschichte „Bella Germania“ von Daniel Speck. Hier funktionierte die Mundpropaganda perfekt. Die fing bereits im Verlag an:
"Im Fall des Manuskripts von 'Bella Germania' war es so, dass uns der Text alle wahnsinnig überzeugt hat und wir den wirklich alle großartig fanden. Und das ist das normale Procedere: Wenn viele Menschen im Hause davon überzeugt sind, auch zum Beispiel die Kollegen aus dem Vertrieb, die es ja letzten Endes in den Handel bringen müssen, dass man dann irgendwann sagt: 'Das hat das Potenzial, etwas ganz, ganz Großes zu werden'."
„Bella Germania“ entpuppte sich 2016 als das erfolgreichste deutsche Debüt des Jahres. Das Buch hielt sich insgesamt 50 Wochen lang in den TOP 10 der Spiegel-Bestsellerliste. Zwei Jahre später sorgte der Matthäus-Effekt dafür, dass es auch Specks Nachfolgeroman „Piccola Sicilia“ in die Spiegel-Charts schaffte – und dort sechs Monate lang blieb.
"Bestseller sind für einen Publikumsverlag absolut wichtig. Wenn Sie nicht ein paar Autoren - und natürlich je mehr, desto besser – in Ihrem Portfolio haben, dann werden Sie wirtschaftliche Schwierigkeiten bekommen", sagt Julia Schade. "Denn Verlage sind ja auch Wirtschaftsunternehmen. Wir müssen Geld erwirtschaften."
Ein knallharter Konkurrenzkampf der Verlage
Laut Statistischem Bundesamt haben die rund 3.000 Buchverlage in Deutschland zuletzt pro Jahr rund fünf Milliarden Euro umgesetzt. Doch nur wenige Verlage machen ein dickes Geschäft. Mehr als vier Milliarden Euro Umsatz verteilen sich auf gerade einmal 60 große Verlagshäuser. Mit anderen Worten: Es tobt ein knallharter Konkurrenzkampf.
"Und deswegen ist es ganz, ganz wichtig, dass Sie ein paar durchgesetzte Autoren haben, von denen Sie genau wissen, dass die regelmäßig schreiben. Im Fall von Daniel Speck zum Beispiel ist es so: Der schreibt uns alle zwei Jahre ein Buch. Ich habe aber auch Autoren, die schreiben jedes Jahr eins oder sogar jedes Jahr zwei – wo ich zumindest halbwegs sicher sein kann, dass die auf die Bestsellerliste kommen, sich da lange halten und entsprechende Verkaufszahlen generieren. Das ist ganz, ganz, ganz wichtig für einen Verlag. Der steht und fällt mit seinen Bestsellerautoren."
Sachbuch-Bestseller sind oft Eintagsfliegen
Im Gegensatz zur Belletristik, wo immer wieder dieselben Autoren die Verkaufshitparaden dominieren, kommt es auf der Sachbuch-Bestsellerliste häufiger zu Eintagsfliegen. Das sind oft Titel, die einen aktuellen Trend aufgreifen oder ein Thema behandeln, das medial sehr präsent ist.
Ein Beispiel sind die Memoiren von Britney Spears. Der US-amerikanische Verlag Simon & Schuster hat sich im Februar 2022 auf einen millionenschweren Vertrag mit dem US-Popstar geeinigt. Britney Spears war zuvor in einen jahrelangen, aufsehenerregenden Rechtsstreit mit dem eigenen Vater verwickelt gewesen. Der Münchner Heyne-Verlag – wie Simon & Schuster gehört er zum Bertelsmann-Konzern – nahm 2021 ebenfalls einen angesagten Musikstar unter Vertrag. Dessen Autobiografie erscheint in diesem Frühjahr.
"Bei David Garrett waren wir sofort sehr sicher, weil er eine solche Größe im Musikgeschäft ist und auch so viele Altersgruppen anspricht, dass er mit seiner Lebensgeschichte wirklich ein breites Publikum erreicht, zumal er sich auch wirklich persönlich sehr für das Buch einsetzt", sagt Klaus Fricke, Programmleiter Sachbuch beim Heyne-Verlag.
"Für ihn hat das einen ganz hohen Stellenwert. Er hat sehr intensiv auch das Konzept mit entwickelt und ganz viel Input gegeben, was dann auch beispielsweise dazu führt, dass das Buch insofern sehr besonders ist. Den es hat über QR-Codes Zusatzmaterial, das man dann als Leser, Leserin des Buches online auch aufrufen und ergänzend genießen kann. Das ganze Konzept mit ihm zusammen, auch als tragende Figur und Promoter seines eigenen Buches, das war natürlich toll."
Billie Eilishs Autobiografie floppte
Ein bekannter Künstlername auf dem Buchcover garantiert aber keineswegs automatisch herausragende Absatzzahlen. So fand etwa die Autobiografie der Singer-Songwriterin Billie Eilish in den ersten sechs Monaten in den USA gerade einmal 64.000 Käufer – und das bei 100 Millionen Followern des Popstars auf Instagram. Ihr ebenfalls populärerer Kollege Justin Timberlake konnte innerhalb von drei Jahren gerade einmal gut 100.000 Exemplare seines eigenen Buchs verkaufen.
"Bestseller sind für alle Verlage elementar. Denn Verlage ticken und funktionieren alle nur über die sogenannte Mischkalkulation. Das heißt: Jeder Titel, der sehr erfolgreich wird, trägt einfach einen Gutteil des restlichen Programms mit. Das ist schon immer so, würde ich sagen. Und ohne Bestseller kann man sicher dann auch kein breites Programm erlauben."
"Bei Ratgebern ist das Bestsellergeschäft ganz anders. In manchen Fällen plant man es, in manchen Fällen passiert es einfach", sagt Nicole Schindler, Vertriebs- und Marketingleiterin beim Stuttgarter Verlag Eugen Ulmer. 2018 erschien hier ein Ratgeber mit dem Titel „Regrow your Veggies. Gemüsereste endlos nachwachsen lassen“. Das Buch zum Thema Nachhaltigkeit lag voll im Trend und eroberte die Spiegel-Bestsellerliste.
Ein verkaufsfördernder Aufkleber
"Wenn der Titel auf der Bestsellerliste steht, bestellen wir natürlich die Aufkleber. Wir kleben die Aufkleber überall drauf, wir nutzen natürlich marketingseitig überall dieses Label. Und dann kriegt natürlich dieser Titel auch nochmal extra Schwung. Der ist dann mit Sicherheit manchmal mehrere Monate auf dieser Liste, manchmal auch nur zwei, drei Monate, manchmal länger." Aber man kann natürlich davon nicht ausgehen.
Der Literaturforscher Christian Adam hat ein Buch über Autoren, Leser und Bestseller in Deutschland nach 1945 verfasst. Über die Spiegel-Bestsellerliste schreibt Adam: "Für Aufregung in der Buchbranche sorgte der 'Spiegel' im Dezember 2017 mit der Mitteilung, dass er fortan für die Nutzung seines Logos (…) Gebühren erheben werde. Das solle sowohl für den stationären Buchhandel als auch für die Verlage gelten, die den Hinweis bisher in ihren Werbemitteln oder auf den Büchern gerne einsetzten. Die Diskussion unter den Verlagsleuten im Nachgang brachte auch die Frage auf, wer hier eigentlich von wem profitiere? Die Verlage von der Nutzung des Logos, obwohl sie davon überzeugt sind, die Bestseller – Zitat: 'kraft unseres eigenen Contents' – erst zu schaffen? Oder der 'Spiegel' von seiner breiten Präsenz via Logo im Buchhandel und dessen Medien? Der Streit offenbart vor allem eines: Es handelt sich beim Bestseller (…) um ein Markenprodukt, das in bestimmten Bereichen den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt wie ein Tempo-Taschentuch oder ein iPod."
Saisonware Ratgeber
Für saisonale Ratgeber beträgt die Platzierungszeit im Buchhandel – anders als bei Romanen oder Sachbüchern – meist nur wenige Wochen. Darum ist es für Ratgeberverlage wie Eugen Ulmer schwierig abzuschätzen, wie viele Exemplare man drucken sollte.
"Man produziert ein Buch, man hat das Gefühl, das könnte ein Bestseller werden, den wollen wir auch groß platzieren. Man geht mit den Kollegen der Filialisten ins Gespräch und fragt natürlich auch die Einkaufsmengen ab", sagt Nicole Schneider.
"Und dann wird produziert. Wenn wir jetzt angenommen 6000 Exemplare an einen Filialisten schicken, wir haben 15.000 gedruckt, und es kommen viertausend zurück und der Titel liegt auf einmal wie Blei und es war doch kein so guter Bestseller und war echt eine Eintagsfliege, das kann wirklich passieren. Dann bleibt man natürlich auf den Büchern sitzen."
Die Verlage zahlen für gute Platzierung
Um dieses Worst-Case-Szenario möglichst zu verhindern, schließen größere Verlage mit Ketten wie Thalia, Weltbild oder Hugendubel Jahresverträge ab. Glauben Verlag und Buchhändler an das Potenzial zum Bestseller, planen beide Seiten im Voraus verschiedene Werbemaßnahmen: Das kann ein Platz auf hervorgehobenen Verkaufstischen in den Filialen sein. Oder das ausgewählte Buch wird gut sichtbar im Werbeprospekt der Buchhandelskette erwähnt, der einer Tageszeitung beiliegt. Die Verlage zahlen an die Filialisten Geld und übernehmen so einen Teil der Werbekosten.
"Aber es ist natürlich ein sehr teurer Spaß", räumt Schneider ein. "Es sind Mengen zwischen 10.000 bis 15.000 Exemplare, die man erstmal rausstellt in den Handel. Und man bezahlt natürlich auch für diese Fläche. Für diese Tische bei den Filialisten müssen auch mehrere tausend Euro hingeblättert werden, damit man diese Sichtbarkeit auch hat."
Wie das im Einzelnen aussehen kann, erklärt Hugendubel-Filialleiterin Ute Bauer aus Berlin. Bei ihr und auch in allen anderen Niederlassungen des Unternehmens können Verlage so genannte Thementipps buchen:
"Diese Thementipps, die mit Plakaten dann ausgestellt werden – das sind pro Monat drei bis vier Bücher, die wir so präsentieren –, die sind tatsächlich mit Werbekostenzuschuss der Verlage versehen. Und da weiß ich halt von den Verlagen, dass sie das zum Teil gern buchen – vor allem, wenn sie es dann nicht nur bei uns machen, sondern vielleicht auch noch bei den anderen Filialisten. Dann haben die deutschlandweit eine große Präsentation, können dann an den Bahnhöfen Plakate aufhängen und solche Dinge dann auch tun. Und was ich auch schon von verschiedenen Vertriebsleitern aus Verlagen gehört habe: Es ist für die Verlage eine gute Möglichkeit, gute, junge unbekannte Autoren auch zu platzieren, die die Buchhändler in der Stückzahl sonst nicht einkaufen würden."
Kleine Buchhandlungen wollen anders sein
In Deutschland gibt es rund 5000 klassische Buchhandlungen. Etwa 1300 davon, also gut ein Viertel, gehören zu Ketten. Demgegenüber stehen 800 Läden mittelgroßer Unternehmen mit jeweils zwei bis drei Standorten sowie knapp 3000 Einzel-Buchhandlungen. Trotz der dominierenden wirtschaftlichen Rolle wollen gerade die Betreiber der kleinen Buchhandlungen von Bestsellern oft nicht allzu viel wissen.
"Es gibt im unabhängigen Buchhandel auch die dezidiert andere Position, Leute, die sagen: Ich möchte hier mit Individualität überzeugen und reproduziere gerade nicht das Bestsellerwesen, sondern mache hier meine eigene, kuratierte, von mir selbst empfohlene Auswahl", sagt Torsten Casimir, Chefredakteur der Fachzeitschrift "Börsenblatt". Sie wird herausgegeben vom Börsenverein des deutschen Buchhandels.
"Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt, der ist mir sehr wichtig: Wir haben im Laufe der Jahre gemerkt, nur das große Bestseller-Geschäft abzubilden, ist kein Dienst an der Vielfalt des Buchhandels. Und wir haben deswegen zusammen mit media control Independent-Bestsellerlisten gebaut und publizieren die auch regelmäßig. Das sind also Bestsellerlisten von Büchern aus Verlagen, sagen wir mal, unterhalb dieser großen Umsatzklassen, wo dann nicht ein Matthes und Seitz oder ein Kein und Aber oder ein Verbrecher-Verlag konkurrieren muss mit Rowohlt und S. Fischer und Penguin Randomhouse."
Auch die Independent-Verlage haben ihre Verkaufshitparade
Im Gegensatz zur wöchentlichen Spiegel-Bestsellerliste erscheint die Börsenblatt-Independent-Bestsellerliste nur einmal pro Monat. Sie listet die meistverkauften Bücher aus dem Bereich Belletristik unabhängiger Verlage auf. Berücksichtigt werden ausschließlich Unternehmen, deren Vorjahresumsatz unter zehn Millionen Euro lag. Für Torsten Casimir soll die Independent-Bestsellerliste vor allem dazu beitragen, die kulturelle Büchervielfalt zu erhalten. Doch braucht es dafür eine eigene Verkaufshitparade? Was wäre, wenn es irgendwann überhaupt keine Bestsellerlisten mehr gäbe?
"Das Bestsellergeschäft macht einen zunehmenden Anteil am Gesamtabsatz und -umsatz des Buchmarktes aus, also würden diese beiden Kategorien – Buchabsatz und Buchumsatz – leiden, und zwar massiv. Ein deutscher Buchmarkt ohne Bestsellerlisten wäre ein deutlich kleinerer Buchmarkt. und deswegen ist das keine Option."
Auch Nicole Schindler vom Verlag Eugen Ulmer hofft, zumindest ab und an mit einem ihrer Ratgeber auf der Bestsellerliste zu landen. Doch das allein treibt die Marketingfrau nicht an: Sie bricht auch eine Lanze für solche Titel, die es nie in die Charts geschafft haben – oder die es niemals dorthin schaffen werden.
"Für Ratgeberverlage sind Bestseller natürlich wirklich schön und freudig und man genießt es, auf diesen Listen zu stehen. Schade ist natürlich dann, dass die Themen rechts und links oft vergessen werden. Denn auch hier gibt es natürlich spannende Themen, die keinen Aufkleber haben – und die werden oft übersehen. Das würde ich gerne einfach nochmal auf den Weg mitgeben: dass Menschen sich nicht nur nach Bestsellern orientieren, sondern auch wirklich rechts und links schauen, was der Verlag so noch Schönes in der Tasche hat."
Mitwirkende
Autor: Christian Blees
Sprecherin und Sprecher: Lisa Hrdina und Olaf Oelstrom
Regie: Friederike Wigger
Technik: Hermann Leppich
Redaktion: Martin Mair