Als wäre es eine große Party
Mit "Morphin" gelang Szczepan Twardoch, 35, in Polen sein Durchbruch. Es ist ein mutiges Buch über einen Helden in der Männlichkeitskrise, der das Leben in vollen Zügen genießt und sich dabei selbst verliert. Im Literarischen Colloquium Berlin stellte der Autor seinen Roman vor.
Er füllt sich, der Lesesaal im Hauptgebäude des Literarischen Colloquiums Berlin. Das Buch "Morphin“ feiert hier seine Premiere. Das Publikum ist gemischt, alte und junge, Deutsche und Polen. Einige halten bereits das neuste Buch von Szczepan Twardoch in der Hand, viele haben Randnotizen mit Bleistift. Sie stechen ins Auge. Janusz Kocaj aus Potsdam hat den knapp 600-seitigen Roman an drei Tagen gelesen, allerdings musste er sich erst an den Stil gewöhnen:
"Er hat so viele Stränge, die gleichzeitig geführt werden, aber dann er wird sehr spannend dadurch. Dazu kommt noch eine sehr interessante geschichtliche Situation, Zweiter Weltkrieg, und vor allem ganz andere Literatur, als man so kennt aus Polen, aus der Kriegszeit. Polen ist Opfer immer gewesen. Und der Autor geht auf großen Abstand und erzählt fast über keine Opfer. Er erzählt die Wochen in Warschau als wäre es einfach eine große Party."
Für alle, die Twardoch noch nicht kennen, macht sein Übersetzer ins Deutsche und Moderator des Abends Olaf Kühl eine kurze und spannende Einführung:
"Twardoch hat Soziologie und Philosophie studiert an der Schlesischen Universität in Kattowitz. Er lebt mit zwei Frau... eh... entschul... ” – (Gelächter, Empörung)
… ein Versprecher. Kühl hatte Twardochs Frau und die zwei Kinder gemeint.
"... lebt in Pilchowice in Oberschlesien."
Twardoch bleibt oft von seiner Familie getrennt. Es ist ein Muss. Denn Literatur sei für ihn nicht nur Arbeit, sondern auch Sucht und ein tiefes Grundbedürfnis. Wenn er gerade einen Roman schreibt, sei alles andere blass und unwichtig:
"Es ist der Preis, den man für einen kreativen Beruf zahlt. Ich kann nur mühsam zu Hause arbeiten, so verreise ich oft - eine, zwei Wochen. Ich brauche zum Schreiben gewisse Ruhe. Und es geht nicht darum, dass es um mich herum ruhig sein muss, aber eher darum, dass ich mich von dem Alltag komplett zurückziehen muss. Unter anderen Umständen kann ich einfach nicht schreiben."
Wer Warschau mag, mag auch Berlin
Das große, lichte Zimmer mit Stuck und Holzdecke im Literarischen Colloquium Berlin eignet sich perfekt zum Schreiben. In einer gemütlichen Ecke steht ein großzügiger massiver Schreibtisch. Der Blick nach draußen zeigt den Wannsee und eine gepflegte Gartenanlage. Einer, der – wie Twardoch – Warschau mag, mag auch Berlin. Die Städte seien sich ähnlich. Moderne Metropolen und das pulsierende Leben faszinieren ihn. Und die Geschichten, die es dabei zu entdecken gibt:
"Es gibt einen Geist, der über die beiden Städte weilt und daran erinnert, dass sie von der Geschichte gekennzeichnet worden sind. Sie schauen aber nicht zurück, sie schauen lebendig nach vorne. Sie sind nicht so starr wie Krakau oder Prag. In Berlin haben mich die Pflastersteine aus Messing gerührt, die an die Nazi-Opfer erinnern, die in Auschwitz ermordet wurden. Ein einfaches, zugleich aber auch ein starkes Zeichen der Geschichte."
Die multiethnische Geschichte seines Herkunftslandes Oberschlesien habe ihn geprägt. Und doch könne er den Begriff "Schlesier" schwer definieren. Klar sei, dass er sich weder rein polnisch noch rein deutsch fühle:
"Einerseits stehe ich der polnischen Kultur nahe. Ich schreibe auf Polnisch, bin ein polnischer Schriftseller. Andererseits war die deutsche Kultur immer stark Zuhause präsent. In der Bibliothek meines Großvaters standen eher Goethe und Schiller im Original, und nicht die polnischen Nationaldichter Mickiewicz und Słowacki. Dies war der Kulturcode, auf den man Bezug nahm."
Schlesier sind keine "ethnische Volksgruppe"
Twardoch kann polarisieren. Als die Organisation "Bewegung für die Autonomie Schlesiens" vor ein paar Jahren einen Antrag auf Anerkennung als ethnische Volksgruppe stellte, beobachtete er es als Nichtmitglied höchstinteressiert. Man könne nicht so tun, als ob es Schlesier nicht gäbe, meint er. Das oberste polnische Gericht hat jedoch geurteilt, dass Schlesier keine eigenständige Volksgruppe sind und den Antrag deswegen abgelehnt. Twardoch war empört und schimpfte auf seiner Facebook-Seite. Daraufhin wurde er angezeigt und befindet sich derzeit in einem Verfahren wegen Verunglimpfung, das mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann.
Mit der Veröffentlichung von "Morphin" 2012 machte Twardoch die Kritiker auf sich aufmerksam. Prompt wurde der Mittdreißiger daraufhin als Kultautor gefeiert.
Buchzitat:
"Und die Tage sind nicht voll genug
Und die Nächte sind nicht voll genug
Und das Leben gleitet durch wie eine Feldmaus
Das Gras nicht schüttelnd"
"Und die Tage sind nicht voll genug
Und die Nächte sind nicht voll genug
Und das Leben gleitet durch wie eine Feldmaus
Das Gras nicht schüttelnd"
So das Motto des Romans. Er ist ein ungewöhnliches und mutiges Studium der Männlichkeitskrise, in der der Held versucht, das Leben in vollen Zügen zu genießen, der aber durch seinen ständigen Identitätswechsel zu einem identitätslosen Antihelden mutiert. Diese Geschichte musste Twardoch einfach loswerden:
"In dieser Metapher des vorbeieilenden Lebens sehe ich den Zustand der Menschheit hier und jetzt, ihre bittere Unerfüllung. Darüber ist ‚Morphin‘. Ein Roman macht dann Sinn, wenn er in seinem Leser etwas verändert. Wenn der Leser unverändert bleibt, dann hat er einfach seine Zeit verloren. Ich plane es jedoch nicht; ich schreibe es nach dem Gehör, so wie ein Musiker, der keine Noten kennt, nach dem Gehör spielt."
Als Jugendlicher wollte er Rockstar werden
Twardoch ist per Zufall Schriftsteller geworden. Die enge Beziehung zu dem gebildeten Großvater und dessen Liebe zur Literatur haben ihn nicht dazu gebracht. Als Jugendlicher träumte er davon, ein Rockstar zu werden. Nach dem Studium wollte er über die Ideengeschichte promovieren, sich der Wissenschaft widmen. Feste Arbeitszeiten und die Planmäßigkeit waren jedoch nichts für ihn. Er machte sich selbstständig, aber er ging pleite.
"Es ist einfach passiert; ich habe angefangen, Bücher zu schreiben, die man dann veröffentlicht hat. Nach ein paar Jahren wurde es sogar einfacher. Es stellte sich heraus, dass ich davon gut leben kann. Ich habe aber recht spät an mich als an einen Schriftsteller gedacht, da ich dachte, ich mache so viele verschiedene Dinge. Und doch ist Schreiben das Einzige, was ich machen kann. So bleibe ich also dabei."