Erneute Debatte um die Rolle Polens im Holocaust
Der polnischen Nation eine Mitverantwortung für den Holocaust zu geben, verbietet ein neues Gesetz in Polen. Das sorgte weltweit für Protest. Ein nun in Polen publiziertes Werk dokumentiert die Schicksale von Juden in Polen während des Zweiten Weltkriegs und sorgt damit für eine neue Debatte.
Die Wissenschaftler forschten fünf Jahre an dem Thema. Sie besuchten dafür Archive auf der ganzen Welt, sie werteten Gerichtsprozesse aus und die Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden. Die Frage, die sie sich stellten: Wie versuchten Juden im von Deutschland besetzten Polen, dem Holocaust zu entgehen? Eine Antwort hätten die Forscher am Beispiel von neun Regionen gesucht, erklärte der Historiker Jan Grabowski: "Es ging uns darum, über die Großstädte hinauszugehen. Wir blicken auf den Holocaust oft durch das Prisma des Warschauer oder des Krakauer Ghettos. Aber da hat sich eine Minderheit der polnischen Juden aufgehalten. Das typische Ghetto war eines, wo die Grenze zwischen Polen und Juden nur in den Köpfen der Menschen bestand."
Die Rolle der Blauen Polizei untersucht
Der Saal im Museum für die Geschichte der polnischen Juden "Polin" war überfüllt, viele mussten draußen bleiben, denn das Buch wird es zu einem wichtigen Element in der jüngsten polnischen Debatte über den Holocaust. Die rechtskonservative Regierungspartei PiS hat ein Gesetz durch das Parlament gebracht, das bestimmte Äußerungen verbietet.
Mit einer Gefängnisstrafe muss zum Beispiel rechnen, wer der den Polen als Nation eine Mitverantwortung am Holocaust zuschreibt. Dies allerdings tut das Werk nicht. Es widerspricht aber der Darstellung, nur einige wenige Polen hätten Juden den deutschen Besatzern ausgeliefert. Jan Grabowski: "Wir haben dargestellt, welche schlimme Rolle die polnische sogenannte Blaue Polizei gespielt hat. Das staatliche Institut für das das nationale Gedächtnis bezeichnet sie als deutsche Formation, die Anweisungen der Deutschen ausführte. Aber wir haben Beweise gesammelt, dass diese Formation ihre eigene antijüdische Politik verfolgt hat. Manchmal handelte die Polizei sogar ohne Wissen der Deutschen."
Die Blaue Polizei war eine von Deutschen geschaffene Hilfspolizei im sogenannten Generalgouvernement, einer Verwaltungseinheit der Besatzer im südöstlichen Polen. Sie bestand vor allem aus Mitgliedern der polnischen Polizei der Zwischenkriegszeit.
Viele Organisationen in Polen haben beim Holocaust mitgewirkt
Aber auch andere Organisationen hätten beim Holocaust mitgewirkt, so Grabowski: "Wir weisen auch auf die Freiwillige Feuerwehr hin. Ihr Beitrag zum Holocaust ist in einigen Orten sehr deutlich geworden. Das gilt auch für die Bürgerwehren, die sich auf dem Land gebildet hatten. Das war ein Mechanismus innerhalb der Judenvernichtung, der eine sehr wichtige Rolle gespielt hat."
Grabowski geht davon aus, dass Polen am Tod von rund 200.000 Juden mitverantwortlich waren. Eine Zahl, die von den anderen Buchautoren nicht bestätigt wird.
Die Soziologin Barbara Engelking, neben Grabowski Herausgeberin der Studie, nennt eine andere Zahl: Von den Juden, denen es zunächst gelungen war, den deutschen Besatzern zu entkommen, habe nur ein Drittel überlebt. Die anderen zwei Drittel hätten erfolglos Schutz gesucht. Das zweibändige Werk erlaubt auch einen kritischen Blick auf die katholische Kirche, die in Polen hohes Ansehen genießt.
Karolina Panz, die über die Region Nowy Targ ganz im Süden von Polen recherchierte: "Für mich als Katholikin war es eine unangenehme Erkenntnis, dass die Kirche weitgehend geschwiegen hat. Oder noch schlimmer, wie die Geschichte eines Mannes zeigt, der von der Frau, die er gerettet hat, als Engel bezeichnet wurde. Einige Stunden, nachdem er ein jüdisches Ehepaar unter seinem Dach versteckt hatte, sagte man ihm in der Kirche: Er solle die Juden ausliefern. Er hat sie trotzdem gerettet."
Szenen, die an Grauen nicht zu überbieten sind
Es gebe auch positive Beispiele von Geistlichen, die Juden retteten. Aber gerade sie zeigten, welche Macht die Kirche gehabt hätte, um mehr für die jüdischen Mitbürger zu tun, so Karolina Panz. Die Historiker beschreiben auch Szenen, die an Grauen nicht zu überbieten sind. Ein Bauer versteckte einen jüdischen Freund in seiner Scheune. Die Nachbarn erfuhren davon und zwangen den Bauern, den Juden umzubringen, sonst würden sie ihn verraten. Der Bauer erschlug seinen Freund mit der Axt.
Das Buch dürfte in rechtsgerichteten Kreisen also eher auf Ablehnung stoßen, einige Medien nannten seine Thesen bereits "antipolnisch". Dennoch hofft Herausgeberin Barbara Engelking: "Die Debatte ist nicht mehr aufzuhalten. Viele fragen sich heute: Wie viel Böses haben wir auf dem Gewissen? Wie viele Polen haben sich am Holocaust beteiligt? Noch vor einigen Jahren war das Thema an sich umstritten. Heute wissen alle: Es gab damals Polen, die sich am Mord an den Juden beteiligten, das gab es."