Beten vor dem Abschiebegefängnis

Von Jantje Hannover |
Der Kreuzberger Jesuitenpater Christian Herwartz ist für seine "Exerzitien auf der Straße" bekannt. Er engagiert sich auch gegen die Kriminalisierung von Flüchtlingen. Dafür wird er nun vom Ökumenischen Rat Berlin-Brandenburg ausgezeichnet – und ist wegen der Ehre, die ihm zuteil wird, sichtlich überrascht.
"Das habe ich dann gefragt: Wie kommt ihr auf die Idee, mir diesen Preis zu geben? Dann haben sie gesagt: Die orthodoxen Gemeinden gehen immer wieder in die Abschiebehaft, wenn Mitglieder ihrer Gemeinden abgeschoben werden sollen. Und da haben sie gesehen, dass eine kleine Gruppe regelmäßig ein Gebet vor der Abschiebehaft macht und danach Besuche in der Abschiebehaft.

Dazu gehöre ich. Dann habe ich gefragt: Weil wir Christen verschiedener Herkunft sind oder weshalb? Und dann hab ich die Antwort bekommen: Nein, weil ihr euch gesellschaftlich engagiert, und das ist für uns Ökumene, in diese Gemeinsamkeit gegen Unrecht zu gehen."

Mit dem Gebet vor dem Gefängnis protestiert Christian Herwartz mit den "Ordensleuten gegen Ausgrenzung" gegen die Kriminalisierung von Flüchtlingen. Menschen, die keine Straftat begangen haben, werden inhaftiert, nur weil die Deutschen ihren Wohlstand nicht mit ihnen teilen wollen.
"Das war eine Folge von dieser Vereinigung von Ost und West, die Asylgesetze wurden abgeschafft. Formal stehen sie noch im Grundgesetz, aber praktisch werden sie nicht mehr angewandt."

Herwartz will erreichen, dass mehr Leute wahrnehmen, wie schlecht es um die Menschenrechte in unseren westlichen Demokratien steht:

"Unser Alltag ist, Menschen abzuschieben, Grenzen aufzubauen, zu töten. Mehr als 3000 Menschen werden jedes Jahr an der Grenze von Europa getötet, dafür haben wir eine Verantwortung, und diese Verantwortung zu spüren und sie nicht immer beiseite schieben und zu verdrängen, das ist eigentlich das, was unsere Gruppe tut."

Ein Tag im November vor dem Abschiebegefängnis in Berlin-Köpenick. Auf dem Rasen vor dem grauen, mit hohen Zäunen umgebenen Gebäude stehen etwa 40 Menschen in lockeren Gruppen zusammen.

"Kommt ihr hier noch so rum, dass wir einen Kreis haben?"

Langsam stellen sich alle für die Mahnwache auf:

"Also ich bin der Christian, und da hinten haben die sich schon aufgebaut, dass sie unseren Besuch abfangen können."..

Keine 100 Meter entfernt drängen sich Polizisten und Wachleute hinter dem gut gesicherten Eingangstor zum "Abschiebegewahrsam", wie das Gefängnis offiziell heißt. Die Mahnwache lässt sich dadurch nicht beirren. Christian Herwartz reicht ein Megafon herum, und jeder Teilnehmer erzählt, warum er oder sie hier ist.

"Bruder Andreas aus der Gemeinschaft von Taizé."

Christian Herwatz: "Und es ist klasse, wenn du jetzt ein Lied mit uns anfängst, weil wir haben gar keinen Sänger diesmal dabei, und so ein Taizé-Lied, das kriegst du doch hin, oder? Das müssten wir schaffen (lachen) wir können: 'Laudate omnes gentes' singen und uns erinnern, dass die Menschen in einer Menschheitsfamilie zusammen sind."

Christian Herwartz lässt das Megafon sinken, stimmt in den Gesang mit ein. Er ist 69 Jahre alt, kräftig gebaut, trägt einen langen weißen Vollbart, ein Typ, zu dem man schnell Vertrauen fasst.

Vom Lagerarbeiter zum Jesuitenpater
Mehr als 20 Jahre lang hat Christian Herwartz als Lkw-Fahrer, Lagerarbeiter und Dreher seinen Lebensunterhalt verdient. Er ist als Arbeiterpriester in die Fabriken gegangen, zuerst in Frankreich, später in Berlin. Aber anstatt sich im Alter mit seiner Rente ein bisschen Ruhestand zu gönnen, organisiert er weiter Mahnwachen, interreligiöse Friedensgebete und lebt in seiner Kreuzberger Wohngemeinschaft mit 15 Mitbewohnern zusammen. Sogar sein Schlafzimmer teilt er mit sechs anderen Männern. Neben seinem 86-jährigen Mitbruder Franz sind darunter Haftentlassene, Menschen ohne Papiere und trockene Alkoholiker:

"Weil die Wirklichkeit heilt, wenn ich in der Wirklichkeit lebe mit mir selber, und mir nichts vormache, und mit anderen, das ist Gesundheit. Dass Geld das Wichtigste ist, das ist doch eine Droge. Aus diesen Drogen auszusteigen ist doch, ins Leben zu kommen".

Solange genügend Schlafplätze vorhanden sind, steht Christian Herwartz' Wohngemeinschaft allen Menschen in Not offen. Seine radikale Menschenliebe geht über das oft floskelhaft benutzte Wort "Toleranz" weit hinaus:

"Toleranz ist ja so eine Minimumregel, das ist nicht, was ich suche, ich suche, den Anderen anzunehmen, mich an ihm freuen. Das Leben hier zusammen ist ne Anfrage, den anderen schätzen zu lernen, das gelingt nicht immer. Aber es gibt eine Chance, den anderen anzunehmen. Und den Weg möchte ich gerne gehen."

Sich auf das Leben einzulassen, wie es ist, und Menschen anzunehmen, wie sie sind, kann man lernen, sagt der Jesuitenpater. Er hat dafür eine Methode entwickelt, die er "Exerzitien auf der Straße" nennt.

Wer mit offenen Augen auf die Straße geht, stößt häufig auf Menschen oder Orte, die er oder sie normalerweise meidet. Vielleicht, weil dadurch eigene schmerzliche Erfahrungen berührt werden. Eine Suppenküche für Obdachlose kann das sein, ein Krankenhaus oder der Straßenstrich.

Auch Christian Herwartz hat so einen Ort, an den er immer wieder gehen muss:

"Ich gehe vor die Abschiebehaft regelmäßig, weil ich die Wirklichkeit sehen will. Die Wirklichkeit macht uns frei. Ich bin im Krieg geboren, wo mir danach gesagt wurde: Wir haben das alle nicht gesehen, dass Juden umgebracht wurden oder andere Dinge, und da hab ich mir gedacht: ich will hingucken."
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