Beth Macy: "Dopesick"

Am Puls einer drogenabhängigen Gesellschaft

07:34 Minuten
Cover des Buchs "Dopesick" von Beth Macy
In "Dopesick" wagt die Journalistin Beth Macy einen Überblick über die Opioid-Krise in den USA - jenseits von Skandalberichten. © Heyne Hardcore / Deutschlandradio
Von Volkart Wildermuth |
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In den USA sinkt die durchschnittliche Lebenserwartung. Der Grund: die Opioid-Epidemie. Viele Amerikaner sind abhängig von Schmerzmitteln. Die US-Journalistin Beth Macy hat Süchtige und Hinterbliebene getroffen. In "Dopesick" zeichnet sie ihre Schicksale nach.
"Bei Amerikanern unter 50 sind Überdosen inzwischen die häufigste Todesursache", schreibt Beth Macy in ihrem gerade erschienen Buch "Dopesick", eine Dokumentation über die Opioid-Krise in den USA. Jahrzehntelang verschrieben US-Mediziner freigiebig hochwirksame Schmerzmittel: War etwa der Knöchel verstaucht, bekam man gleich eine Monatspackung "Vicodin". Dabei enthalten die Pillen chemische Verwandte des Morphins. Aus Patienten wurden so Abhängige und aus Abhängigen Dealer. Viele von ihnen starben. Wie es dazu kommen konnte, genau davon erzählt die Journalistin.

Schmerzmittel gegen die Verzweiflung

Beth Macy hat die Tragödie in ihrer Heimatstadt Roanoke und den nahegelegenen Appalachen hautnah miterlebt. Ausgangspunkt war "Oxycodon", ein besonders starkes Schmerzmittel, das "Purdue Pharma" gegen besseres Wissen als Opioid ohne Suchtpotenzial vermarktete. Mit den beschriebenen dramatischen Folgen.
Aber die Pharmaindustrie deshalb zum alleinigen Bösewicht in diesem Drama abzustempeln, greife zu kurz, so die Autorin. Genauso wichtig ist der Niedergang der Industrie. Die Menschen nahmen "Oxycodon" irgendwann nicht nur gegen Schmerzen, sondern auch gegen ihre Verzweiflung. Das soziale Netz der USA ist mehr als löchrig. Für viele bot der Weiterverkauf der Pillen daher auch eine neue Einnahmequelle. Alle drei Elemente zusammen führten dazu, dass die Opioid-Epidemie immer weitere Kreise zog.

Eine nationale Krise

Inzwischen spricht auch der US-amerikanische Präsident von einer nationalen Krise. "Purdue" und "Johnson & Johnson" mussten Strafzahlungen in Millionenhöhe leisten. Wobei von dem Geld wenig bei den Betroffenen und ihren Familien ankommt, sagt Beth Macy. Die Hilfe ist nicht auf die Bedürfnisse der Süchtigen zugeschnitten.
Ganz nah geht die Autorin an die Menschen ran, an die Süchtigen, deren Eltern und Ärzte, an Polizisten und an die Dealer. Sie ist damit eine der Ersten, die einen großen Überblick wagt – und über den reinen Skandalbericht hinausgeht. Und genau davon lebt ihr Buch. Auch wenn sie sich oft in den Details verliert, unmotiviert hin- und herspringt, gibt sie Opfern wie etwa dem 19-jährigen Footballspieler Jesse Bolstridge oder Großmüttern wie Lee Miller, die ihre Enkelin aufziehen muss, weil deren Mutter im Gefängnis sitzt, ihre Würde zurück.

Auch in Deutschland werden mehr Opioide verschrieben

Wie nah das Problem ist, zeigt das Nachwort des Schmerzexperten Christoph Stein von der Berliner Charité. Er betont, dass auch in Deutschland immer mehr Opioide verschrieben werden und der Missbrauch sich durchaus auf US-amerikanischem Niveau bewege. Das sieht die deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin zwar anders, auch weil Opioide hierzulande stärker kontrolliert werden. Aber unabhängig davon machen Beth Macys sehr persönliche Porträts vor allem eins deutlich: Eine Opioid-Sucht ist eine Krankheit. Betroffene brauchen dauerhafte medizinische wie soziale Unterstützung.

Beth Macy: "Dopesick. Wie Ärzte und die Pharmaindustrie uns süchtig machen"
Übersetzt aus dem Englischen von Andrea Kunstmann
Wilhelm Heyne Verlag, München 2019
464 Seiten, 22 Euro

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