Mit der Psyche am Limit
Traumatisierte Kinder und Jugendliche, die nach Deutschland geflohen sind, finden im regulären System der Krankenversicherungen nur schwer Hilfe. Die Organisation "Children for Tomorrow", die dem Hamburger Universitäts-Klinikum angegliedert ist, kümmert sich um sie.
Ein runder Tisch, drei Stühle. Ein aufgeräumter Schreibtisch, sortierte Regale. Neben Hakeem sitzt Cornelia Reher. Zwei Jahre lang hat er der Hamburger Psychotherapeutin hier seine Geschichte erzählt. Nicht sofort und nicht alles auf einmal. Stück für Stück hat der 18-Jährige aus Benin seine zerfallene Welt hier wieder zusammengesetzt. So gut es ging, das Wörterbuch immer mit dabei.
Hakeem: "Bei der Therapie habe ich gesagt: ich brauche niemanden, der französisch spricht. Ich will einfach die Sprache verstehen! Und ich bin hierhergekommen mit meinem Wörterbuch."
Hakeem erzählt seine Geschichte. Die Hände gefaltet auf dem Tisch. Am 23. Januar 2012 landete er in Frankfurt. Ein Freund seines verstorbenen Vaters hatte seine Reise nach Deutschland organisiert. Er brachte Hakeem raus aus Sakété, einer Kleinstadt im Süden Benins, nahe der Grenze zu Nigeria. Nach dem Tod ihrer Eltern leben Hakeem, 14 Jahre alt, und seine jüngere Schwester in den staubigen Straßen der 35.000-Einwohner Stadt.
Sie sind nicht die einzigen Kinder, die hier von Gelegenheitsjobs leben und ihr Essen stehlen, wenn ihr Chef den Lohn einfach einbehält:
Hakeem: "Meine Schwester konnte das Leben auf der Straße überhaupt nicht aushalten. Wir haben draußen geschlafen, wir haben auf dem Markt geschlafen. Das ist nicht wie in Deutschland. In Deutschland ist alles modernisiert. Ein Markt in Afrika ist einfach... es hat immer geregnet. Wir konnten nicht schlafen in der Nacht."
280 Kinder und Jugendliche im vergangenen Jahr
Dann wird seine Schwester krank. Sie hat Bauchschmerzen und einen Arztbesuch können sie sich nicht leisten.
Hakeem: "Ich hatte kein Geld. Und die einzige Möglichkeit, mir mit einfiel, war, dass ich etwas mit Männern zu tun habe. Um Geld zu verdienen, damit ich meine Schwester retten kann. Aber das ich leider nicht geschafft."
Als Hakeems Schwester stirbt, ist er bei ihr. Der junge Mann senkt den Blick, seine Therapeutin nickt ihm zu:
Cornelia Reher: "OK. Brauchst Du mal eine Pause? Willst Du mal tief durchatmen? Was trinken?"
Hakeem: "Nein. Ich muss weiter."
Hakeem lächelt ihre Bedenken weg. Will weiter reden. Als wolle er sich beweisen, dass ihm, zwei Jahre nach dem Start seiner Therapie, die Erinnerungen an Afrika nichts mehr anhaben können. Hakeem erzählt von seiner Ankunft in Deutschland. Davon, wie der Schleuser ihn in Hamburg einfach aussetzte, ohne Papiere, ohne Sprache für sein neues Leben. Wie er die Menschen auf der Straße auf Französisch ansprach, wie er abgewiesen wurde und den Weg ins Café Exil fand, einem Treffpunkt für Flüchtlinge. Eine Betreuerin der Stadt, die sich um unbegleitete Jugendliche kümmert, hat seine Verzweiflung erkannt und ihn zur Therapie geschickt. Zu der an das Hamburger Universitäts-Klinikum angegliederten Organisation "Children for Tomorrow".
Reher: "Wir haben im letzten Jahr ungefähr 280 Flüchtlingskindern und Jugendlichen Therapie angeboten. Manche waren nur ein paar Mal da. Aber viele machen hier auch eine richtige Regel-Psychotherapie. Das ist eine Therapie von ein bis zwei Jahren. Und die meisten kommen dann wöchentlich hierher für eine Stunde. Und versuchen dann sozusagen in der restlichen Zeit sich ihr Leben hier aufzubauen mit Schule, Freunden, etc."
Seit 1998 gibt es das Angebot. Die Stiftung "Children for Tomorrow" war eine Idee der Tennisspielerin Steffi Graf. Die meisten Patienten sind zwischen 14 und 18 Jahre alt.
Reher: "Die meisten, die wir sehen haben eine posttraumatische Belastungsstörung oder Depressionen. Und das liegt eben daran, dass sie im Heimatland oder auf dem Weg nach Deutschland häufig Situationen erlebt haben, in denen sie Todesangst hatten oder einfach über lange Zeit ganz hoher Stress war. Und das führt eben auch zu Veränderungen der Psyche. Und da ist es oft ... , möglichst zeitnah professionelle Hilfe zu bekommen, damit es auch nicht chronofiziert."
Im regulären System finden sie kaum eine Hilfe
200 Kinder und Jugendliche stehen schon auf der Warteliste der Hamburger Therapeuten. Die im regulären deutschen Krankenversicherungs-System nur schwer Hilfe finden. Der Mangel an speziell geschulten Therapeuten ist ein Problem. Dazu kommt: die Krankenkassen zahlen zwar in einigen Fällen die Behandlungskosten, aber nicht die meist unverzichtbaren Dolmetscher. Wenn die Therapie möglichst schnell nach der Ankunft in Deutschland starten soll, fehlt den meisten jungen Flüchtlingen die Zeit, Deutsch so gut zu lernen, um damit über ihre Gefühle, über ihre Verletzungen zu sprechen.
Eine halbe Stunde lang hat Hakeem seine Geschichte erzählt. Einen kleinen Teil seiner Geschichte:
Hakeem: "Ich konnte vor zwei Jahren meine Geschichte nicht so erzählen. Ich konnte das nicht. Überhaupt nicht. Aber heute fühle ich mich ein bisschen anders. Ich habe einfach meine Vergangenheit akzeptiert und habe mir gedacht: Ok, das Leben ist noch vor mir. Ich muss einfach weiter versuchen zu kämpfen."
Hakeem lehnt sich im Stuhl zurück. Ein bisschen geschafft, ein bisschen befreit.