Betroffenheitskunst sprengt keine eingefahrenen Gedanken

Von Anette Schneider · 15.12.2011
"Dem Thema der menschlichen Existenz und ihrer Verletzlichkeit" will sich eine Ausstellung in Köln widmen. Doch die ausgewählten Exponate "engagierter" Künstler werfen viele Fragen auf.
Gleich am Beginn der Ausstellung hockt Gerhard Marcks "Gefesselter Prometheus": hager, in sich versunken, den Kopf schamhaft gesenkt. Ihm gegenüber ist Jack Durhams Installation über Rassismus platziert. Direkt daneben: Die lebensgroße Skulptur eines Papstes. Giacomo Manzú schuf sie in den 40er-Jahren, ihre erstarrte Haltung scheint die Macht und Gefährlichkeit der katholischen Kirche zu spiegeln. Gleich daneben: Ein großer weißer Kubus mit vier Nischen, in die Katharina Fritsch vier lila Nikoläuse stellte.
William Kentridges Film "Felix in Exile" ist zu sehen, der anrührend von politischer Verfolgung in Südafrika erzählt, von Flucht und der Einsamkeit im Exil. Und vor einem Fenster schwebt eine Bronzeskulptur Reg Butlers: Entstanden Ende der 50er-Jahre, zeigt sie einen an Drähten aufgespannten menschlichen Torso, ein Stück wüst zugerichtetes Fleisch. Kasper König, der die Ausstellung gemeinsam mit Thomas Trummer organisierte, erklärt:

"Was mich interessierte, war eine ganz grundsätzlich existentielle Frage: Sozusagen die altmodische Conditio Humana. Und inwieweit ist das kompatibel mit aktueller Kunst. Dann sind wir dazu gekommen, mit Werken der unmittelbaren Nachkriegskunst sozusagen das existentiell zu verankern. Und schon etwas Thesenhaftes zu haben, aber im aktuellen Bereich - und der historische wird auch aktuell - nicht illustrativ damit umzugehen."

Ob Manzú, Butler oder Marcks - die meisten frühen Arbeiten, die sich mit Krieg, Faschismus und Folter beschäftigen, berühren weit tiefer und wirken viel aktueller, als es die zeitgenössischen Arbeiten tun. Diese verzetteln sich häufig im Nirgendwo. Marko Lehanka etwa stellt der meterhoch vergrößerten Zeichnung von Dürers Bauernkriegsdenkmal, das abschließt mit einem von Feudalherren ermordeten Bauern, sein eigenes Denkmal aus Stroh, Holz und einer Sense gegenüber. Kurator Thomas Trummer:

"Es gibt dieselben ikonografischen Details, allerdings sitzt oben ein Selbstporträt - mehr oder weniger rauchend - und natürlich ohne Schwert. Was mir daran sehr gut gefällt ist das Material: Das ist Stroh eine Sense und so weiter, und das könnte man ja auch als ready made interpretieren, tut man aber nicht, weil in dem Fall sind es Attribute für eine Skulptur."

Was das mit der Ausstellungsidee zu tun hat, sich "dem Thema der menschlichen Existenz und ihrer Verletzlichkeit" zu widmen, bleibt offen. Gleichfalls ratlos steht man vor den barocken Balkonen, die Phyllida Barlow aus Pappmaschee formte und an die Wand klebte. Viele aktuelle Arbeiten wirken beliebig. Andere borden über vor Materialfülle. Andreas Siekmann etwa malte am Computer Fotos von Nichtregierungsorganisationen ab und klebte sie auf die Wände: Bilder von Grenzüberwachungsanlagen in Nordafrika, üblen Arbeitsverhältnissen in Mexiko, der Gemüseproduktion in Südspanien. In zwei Räumen führt er die Missstände der Welt vor.

"Es gibt eine Ausdehnung am Horizont. Praktisch alle Gegenwartsarbeiten sind Raumarbeiten. Sie nehmen einen Raum ein und nicht nur einen Platz, um den man herumgehen kann. Sie sind nicht zentriert, sondern mehr oder weniger ausufernd, sprengend."

Nur sprengt diese Betroffenheitskunst nie eingefahrene Gedanken. Anders als in den Skulpturen der Nachkriegsjahre werden in ihr weder Probleme noch persönliche Haltungen verdichtet zu Kunst. Stattdessen beschränkt man sich auf die Illustration von Ereignissen. Für die reine Wiedergabe von Informationen reicht aber der Griff zu einer guten Zeitung. Doch Thomas Trummer meint:

"Die 50er-Jahre-Arbeiten sind durchweg Stein oder Bronze. Da geht es um Härte. Da geht es um widerständiges Material. Da geht es um Zeitlosigkeit und letztendlich "Übermenschliches": Sozusagen Bronze überlebt uns alle. Hier haben Sie fragiles, zerbrechliches, leicht zerstörbares Material. Ich glaube schon, dass wir in einer sehr fragilen Periode leben. Man kann sich nicht mehr an dieser Festigkeit festhalten. Sie bietet keinen Schutz mehr."

Ging es den Nachkriegskünstlern um Schutzsuche? Wollten sie nicht vielmehr die erlebte massenhafte Verletzung und Missachtung menschlicher Existenz in eindringlichen Bildern wachhalten? Sind nicht ihre Skulpturen stets auch Mahnungen, dass so etwas nie wieder geschehen darf? Weshalb aber sollte man diese Festigkeit der Aussagen gegen Krieg und Faschismus heute nicht mehr teilen können?

Diesen merkwürdigen Zweifeln entspricht ganz das bunte Allerlei der aktuellen Arbeiten: Die wenigen klaren Positionen, wie Kentridges Exilfilm oder Monica Bonvicinis begehbarer Container, der mit sexistischen Äußerungen bemalt ist, drohen darin unterzugehen. Und weshalb angesichts des Anspruchs der Macher, man wolle sich mit einer Kunst auseinandersetzen, die - Zitat - "mit Ernsthaftigkeit auf der Kategorie des Menschlichen beharrt", ausgerechnet unbequeme Künstler wie Santiago Sierra, Doris Salcedo, Luis Camnitzer oder Maurizio Cattelan fehlen, die sich seit Jahren mit Folter, Rassismus und Ausbeutungsverhältnissen beschäftigen, befremdet vollends.

Informationen des Museums Ludwig Köln