Bettina Flitner begann mit dem Buch am Anfang der Corona-Pandemie , wie sie in der Sendung Lesart schildert. „Ich habe einfach angefangen zu schreiben“, sagt sie im Gespräch mit Joachim Scholl. „Fünf Minuten, bevor ich den Laptop aufgeklappt habe, wusste ich noch nicht mal, dass ich anfangen würde.“
Bettina Flitner: „Meine Schwester“
© Kiepenheuer & Witsch
Traurige Reise in die Vergangenheit
05:59 Minuten
Bettina Flitner
Meine Schwester Kiepenheuer & Witsch , Köln 2022320 Seiten
22,00 Euro
Wenige Jahre nach der Selbsttötung ihrer Schwester erzählt Bettina Flitner die Geschichte ihrer Familie. Der Fotografin ist ein tief berührendes, ungeheuer trauriges und zugleich hoffnungsvolles Buch gelungen.
Das Selbstporträt zeigt die Schwestern hintereinanderstehend vor einem Spiegelschrank im Badezimmer. Die, die den Moment fotografisch festhält, hat die Kamera auf die Schulter der anderen gelegt, damit das Bild nicht verwackelt; ein Gemeinschaftswerk sozusagen.
Ein magisches Bild
Die Szene hat etwas Magisches. Denn die Frauen schauen beide geradeaus und betrachten jeweils das Spiegelbild der anderen. Wer erblickt hier wen? Und was wird hier sichtbar? Der Betrachter kann gar nicht umhin, ständig zwischen beiden hin und her zu blicken, zumal sie sich so ähnlich sehen.
Bettina Flitner hat sich und ihre ältere Schwester Susanne porträtiert, als beide in den Zwanzigern waren. Es war der Moment, in dem das Leben der beiden in verschiedene Richtungen ging.
So beschreibt es die Kölner Fotografin in ihrem beeindruckenden Buch, dessen Cover eben jenes Bild zeigt. Verfasst hat sie es vier Jahre nach dem Selbstmord ihrer Schwester. Es ist der Versuch, das Geschehen zu begreifen und zu verarbeiten.
Mit einem Anruf fängt alles an
Der Text beginnt mit dem Telefonanruf des Schwagers, der die Nachricht übermittelt. Auf den folgenden fast 300 Seiten verwebt Bettina Flitner das aktuelle Geschehen –den Schock, die Verzweiflung, die Fragen, ob es sich hätte verhindern lassen, die Suche nach Ursache und Schuld – mit der Geschichte der Familie und damit der gemeinsamen Kindheit.
Die Autorin erzählt gekonnt und bildreich vom Aufwachsen der Schwestern in den 1960er- und 70er-Jahren in einem linksliberalen Bildungsmilieu. Besuch einer Montessori-Schule, Ferien bei den Großeltern, Urlaub auf Capri, ein längerer New York-Aufenthalt der gesamten Familie und schließlich die ersten Flirts in der Pubertät.
Eine verschworene Gemeinschaft
Die Schwestern bilden eine verschworene Gemeinschaft innerhalb eines konfliktreichen Beziehungsgefüges. Zum einen führen die Eltern eine sehr freizügige, die Kinder überfordernde Ehe mit wechselnden Partnern. Zum anderen zieht sich eine „Scheiß-Krankheit“ – die Depression – seit Generationen durch die Familie. Die Mutter ist immer wieder davon betroffen und nimmt sich mit 47 Jahren das Leben.
Es ist tief berührend, wie Bettina Flitner vom Schutz erzählt, den die beiden Schwestern sich in diesem Umfeld bieten. „Operation Hase“ etwa, eine von der Älteren entwickelte Gefahrenabwehr mittels dicker Kissen – eigentlich eingeübt, um die halsbrecherische Fahrweise der Großeltern zu überstehen – wird so zum Sinnbild für etwas viel Größeres.
Die Schwester verliert den Halt
Und doch geht die Nähe der Schwestern im Erwachsenenalter verloren. Während Bettina gut im Leben steht, durchaus auch als Ergebnis einer bewussten Entscheidung, verliert Susanne zunehmend den Halt.
Bettina Flitner ist ein liebevoller, ungeheuer intimer, trauriger und zugleich hoffnungsvoller Text gelungen. Schreibend befreit sie sich von den Fesseln der Vergangenheit und der Trauer. Dass ihr das gelingt, ist eine große Kunst, die weit über das rein Persönliche hinausreicht.
Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen: Wenn Sie das Gefühl haben, an einer psychischen Krankheit zu leiden oder Suizidgedanken Sie beschäftigen, wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation befinden oder das auf einen Ihrer Angehörigen zutrifft, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen bzw. anzubieten. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (gebührenfrei) und im Internet unter telefonseelsorge.de.