Bettina Hitzer: "Krebs fühlen – Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts"
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020
560 Seiten, 28 Euro
Von Angst, verordnetem Optimismus und der Hoffnung
06:19 Minuten
Angst, Ekel, Aufklärung, Verlorengehen in Apparaturen und aggressiven Therapieverfahren – mit der Krankheit Krebs ist eine komplexe Geschichte der Emotionen verbunden. Die Historikerin Bettina Hitzer hat ein wichtiges Buch geschrieben.
Bis in die 1950er Jahre ließen Mediziner ihre Patientinnen und Patienten gern im Unklaren über deren Krebserkrankungen, um Ängste zu unterbinden. Heute hingegen rasseln Ärztinnen und Ärzte nicht selten die grausamsten Details über wuchernde Metastasen herunter – und die Krebskranken fühlen sich mit ihren Ängsten allein.
In ihrem umfangreichen Buch "Krebs fühlen" zeichnet die Historikerin Bettina Hitzer nach, wie sich der emotionale Umgang mit Krebs im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert hat. Eng verwoben mit politischen Debatten, ökonomischen Umbrüchen, gesellschaftlichen Aufbrüchen und technischen Weiterentwicklungen hat sich das affektive Verhältnis von Kranken und medizinischem Personal zu Diagnosen, Therapien und Krankheitsverläufen fortlaufend umgestaltet.
Wahrheit, Lüge, Schmerz und Tod
Um das Riesenthema zu bändigen, erzählt die Autorin ihre Emotionsgeschichte gleich viermal. "Krebs erklären und erforschen", "Krebs erkennen", "Über Krebs sprechen" und "Krebs erfahren" heißen die zentralen Kapitel ihres Buches, die alle mit je eigenem Schwerpunkt quer durch die moderne deutsche Geschichte wandern.
Die Angst – vor der Wahrheit, der Lüge, dem Schmerz, dem Tod – ist nur eines der vielen Gefühle, deren Bedeutungswandel das Buch untersucht. Auch um Ekel geht es, um die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit entstellter Menschen und die Konfrontation mit üblen Gerüchen.
Intensiv haben Behörden und Gesundheitswesen in Weimarer Republik, Nazi-Staat, Bundesrepublik und DDR über die Frage diskutiert, welche Emotionen von Aufklärungskampagnen am besten angesprochen werden sollten. Die Sorge um das eigene Wohlergehen? Oder besser der Wunsch, vernünftig zu erscheinen? Vielleicht das soziale Gewissen gegenüber der Familie? Oder gar – im Nationalsozialismus ein wichtiger Topos – gegenüber Volk und Staat? Die DDR setzte ganz auf Optimismus. Sozialistisch frohgemut sollte es zugehen, auch in der Onkologie.
Lebendige biografische Passagen
Bettina Hitzers historische Gründlichkeit gibt dem Buch Substanz, macht es streckenweise aber auch ein wenig sperrig. Auflockerung bieten die vielen lebendig erzählten biografischen Passagen, in denen historisch bedeutsame Ärztinnen und Ärzte, aber auch Kranke ihren Auftritt haben, etwa wenn sie vor Gericht zogen und dort bahnbrechende Urteile einklagten.
Erst im letzten Kapitel wird die Autorin interpretationsfreudiger, wenn sie herausarbeitet, dass es im Umgang mit einer potentiell tödlichen Krankheit ohne Schatten und Abgründe wohl nie geht. Das zeigt sie am Beispiel der Hoffnung, die inzwischen "ein fast auf das Gegenwärtige bezogenes Gefühl" geworden sei. Transzendente Zukunftsvisionen haben mehr oder weniger ausgedient.
An deren Stelle steht nun die Hoffnung auf kleinste Lichtblicke im Hier und Jetzt – noch einmal ans Meer fahren, Eis essen, die Familie sehen. "Zugleich", so schreibt die Historikerin, "wird Hoffnung zunehmend als Leistung eingefordert." Von der Religion befreit muss noch der Todkranke beweisen, dass der Mensch auch die Hoffnung beherrscht. So sind alte Zwänge neuen gewichen.