Bewegt von evolutionären Entdeckungen

Calpurnia will die Naturbeobachtung zum Beruf machen: Forscherin ist ihr Berufswunsch.
Calpurnia will die Naturbeobachtung zum Beruf machen: Forscherin ist ihr Berufswunsch. © picture alliance / dpa - Pekka Sakki
Calpurnia wächst auf einer Farm auf. Sie interessiert die Natur und sie fängt an, Pflanzen und Tiere zu bestimmen. Ihr Berufswunsch: Forscherin. Doch genau das ist das Problem, denn damals, zum Ende des 19. Jahrhunderts, und dort, in Texas, werden Frauen vom Lande nicht Forscherin - ein einfühlsamer Jugendroman über den Kampf gegen Konventionen.
Der Titel dieses Jugendromans klingt altmodisch. Zu Recht, denn er spielt im Jahr 1899 in Texas. Sechs Monate lang, vom Hochsommer bis Neujahr, begleiten wir die elfjährige Calpurnia durch ihr mal beglückendes, dann wieder hoch kompliziertes Kinderleben. Um am Schluss voll vorsichtiger Hoffnung zu sein, dass ihre (r)evolutionäre Entdeckungen auch die von ihr gewünschten Früchte tragen.

Calpurnia ist das einzige Mädchen unter den sieben Kindern der Familie Tate. Der Vater leitet eine Baumwollfarm, die Mutter führt im Haus ein strenges Regiment und nur der eigenbrötlerische Großvater, Naturforscher aus Leidenschaft, hat Gespür für Calpurnias ungewöhnliche Interessen. Das wissbegierige Mädchen liebt die Natur, den Fluss und die Sterne, fängt mit dem Großvater Schmetterlinge und bestimmt Pflanzen, Vögel und Insekten. Kein Wunder, dass sich schon bald ein fast tragischer Konflikt abzeichnet: Während die Mutter Calpurnia wenig feinfühlend auf ihre Zukunft als Hausfrau vorbereiten, ihr Kochen und Sticken beibringen will, wünscht sich das Mädchen, Wissenschaftlerin zu werden.

Jacqueline Kelly gelingt es hervorragend, beide Sichtweisen plausibel aus der Zeit heraus zu entwickeln. 1899 ist ein Jahr des Umbruchs. Im konservativen Texas dürfen Frauen nicht wählen und junge Mädchen werden als "Debütantinnen" dem Heiratsmarkt zugeführt. Doch mit dem ersten Telefon und der ersten Coca-Cola zieht eine neue Ära heran. Auch Calpurnias Leben ist im Umbruch: Sie ist kein Kind mehr und noch keine junge Frau, sie schwankt zwischen Sehnsucht nach Freiheit und Angst vor der Zukunft.

So bewegen sich Calpurnias "evolutionäre Entdeckungen" nicht nur auf dem Gebiet der Botanik. Dass sie mit dem Großvater eine neue Wickenart entdeckt und offiziell als Forscherin anerkannt wird, ist ein großartiger Erfolg! Sie lernt aber auch, Verantwortung zu übernehmen und Fehler einzugestehen. Dem Strukturprinzip des Entwicklungsromans entsprechend begreift Calpurnia, dass sie selbst ihr Leben in die Hand nehmen muss, wenn sie den gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungen die Stirn bieten will.

Jacqeline Kelly hat einen zugleich einfühlsamen wie spannenden Jugendroman geschrieben, den Birgitt Kollmann sensibel ins Deutsche übersetzt hat. Calpurnia selbst erzählt: frei von der Leber weg, mal zart, mal begeistert, dann wieder nachdenklich und voller Ernst. In ihren altmodischen Kleidern möchte man heute nicht mehr stecken. Aber sie kennen zu lernen, ist eine große und den Horizont erweiternde Bereicherung.

Den Pazifik möchte Calpurnia eines Tages sehen, den Eiffelturm und den Schnee. Den Schnee erlebt sie noch im letzten Kapitel des Romans, am Neujahrstag des Jahres 1900. Was für ein Schlussbild: Sie setzt ihre Fußstapfen barfuß in das unberührte Weiß. Wenn das kein Symbol ist. Eine Fortsetzung folgt glücklicherweise!

Besprochen von Sylvia Schwab

Jacqueline Kelly: Calpurnias (r)evolutionäre Entdeckungen
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
Carl Hanser Verlag, München 2013
336 Seiten, 16,90 Euro, ab 12 Jahren