Bewertung von Schülern

Schluss mit den Wohlfühl-Noten

Gymnasiallehrerin Theresa Neudecker sitzt in einem Gymnasium in Straubing / Bayern vor einer Tafel mit der Aufschrift "G8" und "G9".
Lehrerverbände beklagen die Noteninflation und den Autoritätsverfall ihrer Kollegen. © picture alliance / dpa
Von Susanne Gaschke |
Der Deutsche Lehrerverband kritisiert eine "Inflation an guten Noten". Die Abitur-Note 1,0 wurde 2015 allein in Berlin fünfmal so oft vergeben wie noch zwölf Jahre zuvor. Auch die Publizistin Susanne Gaschke sieht diese Entwicklung kritisch.
Da ist die Mutter, die bei der Geschichtslehrerin anruft und sehr streng nachfragt, warum ihr Sohn, ein Oberstufenschüler, für sein stark Wikipedia-gestütztes Referat denn "nur" eine glatte Zwei bekommen habe.
Da ist das Gymnasium im "sozialen Brennpunkt": Dort sollen einige Neuntklässler ein paar Wochen lang dabei unterstützt werden, "Medienprojekte" umzusetzen: ein Filmchen mit Playmobil-Figuren zu drehen oder ein ausgesprochen schlichtes Hörspiel aufzunehmen. In einem Arbeitsraum haben die 14-Jährigen aus Tischen und Wolldecken ein Höhle gebaut, damit es gemütlicher ist. Das alles ist ganz nett, aber mehr auch nicht. Am Ende wird der ganze Spielkram überhöht und beklatscht, als hätten diese Gymnasiasten mit ihren zum Teil erschreckend dürftigen Deutschkenntnissen eine nobelpreiswürdige Leistung erbracht.

Als hätten die Lernenden einen Anspruch auf gute Noten

Da ist auch die junge Lehrerin für Mathematik und Musik, der fast die Kinnlade herunterfällt, als ihre künftige Direktorin ihr mitteilt, an der neuen Schule werde sie zunächst einmal eine Woche lang bei einem Schüler "hospitieren", damit sie zu verstehen lerne, wie die Kinder die Dinge sähen. Was um Himmels Willen, denkt die 24-jährige Neu-Lehrerin, wird das mit meiner Autorität machen?
Seit Jahren beklagen Lehrerverbände die Noteninflation und den rasanten Autoritätsverfall ihrer Kollegen. Und fasst man die Botschaften der drei geschilderten Szenen zusammen, dann landet man in der Tat bei einem bedenklichen Befund: Schule soll heute offenbar vor allem für eine Wohlfühlstimmung sorgen. Niemand darf herausgefordert, angestrengt oder kränkend benotet werden. Und da Lob und gute Noten zum Wohlbefinden nötig sind, erwächst den Lernenden gleichsam ein Anspruch auf beides – egal, ob sie sich das verdient haben oder nicht. Wenn sie unzufrieden sind, können sie – oder ihre Eltern oder deren Anwälte – ganz schön unfreundlich werden.

Alles wird bewertet – nur im Kernbereich des Lernens nicht

Es ist eigenartig: Eine Gesellschaft, in der inzwischen alle ständig aufgefordert werden, irgendetwas zu "bewerten" – vom Zeitungsartikel über das zuletzt besuchte Restaurant bis zum Tantra-Yoga-Studio – traut sich im Kernbereich des Lernens und des Lernerfolgs keine ernsthafte Bewertung mehr zu. Fast scheint es, als wollten wir uns verbieten, ehrlich von besseren und schlechteren Leistungen zu sprechen, weil wir eigentlich ganz genau wissen: Alle können nicht gut sein. Wir wissen auch, dass das Bildungssystem das politisch immer wieder leichtfertig gegebene Versprechen "Gute Bildung für alle!" in Wahrheit eben doch nicht einlösen kann.
Mangelnder Fleiß, die falsche Arbeitshaltung, ständige Ablenkung, fehlende Begabung, vor allem aber ein hinderndes Elternhaus können durch guten Unterricht bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen, aber nicht völlig neutralisiert werden. Das wird übrigens auch durch eine forcierte Digitalisierung der Lehre nicht gelingen, wie manche Bildungstechnokraten jetzt schon wieder hoffen – so wie sie immer gehofft haben, dass durch irgendein Wundermittel, irgendeine Wundermethode das nötige Wissen per Knopfdruck in die Kinder hinein praktiziert werden könne.

Am Ende kommt es nur auf das Ergebnis an

Aber das Lernen, das Denken, Begreifen, Verstehen und Urteilen lässt sich nicht automatisieren. All das bleibt ein individueller und mühsamer Prozess mit ungewissem Ausgang.
Jene, die "Faktenwissen" denunzieren, Ziffernzeugnisse verteufeln und Lehrer zu "Lernbegleitern" oder zu Hospitanten ihrer eigenen Schüler degradieren – sie müssen sich fragen lassen, ob sie denen, in deren Namen sie zu handeln vorgeben, wirklich helfen. Ob es am Ende nicht ausschließlich auf das Ergebnis ankommt: Kann ein Absolvent lesen, schreiben und denken?
Daran, nicht an erfundenen Noten und Wohlfühl-Zertifikaten, muss sich eine gute Schule messen lassen. Nur das ist im wohlverstandenen Interesse der jungen Leute: Denn im Berufsleben wird auch heute nur derjenige Wahlmöglichkeiten und Bewegungsfreiheit haben, der wirklich und ernsthaft etwas kann.

Susanne Gaschke ist seit dem 1. Januar 2015 Autorin der WELT am Sonntag. Vorher war sie Reporterin und Leitartiklerin bei der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" und bei der "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Ende Dezember 2012 übernahm sie als SPD-Mitglied das Oberbürgermeisteramt in Kiel. Ende Oktober 2013 erklärte sie ihren Rücktritt.

Die Journalistin Susanne Gaschke
© dpa/Ingo Wagner
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