Nicht nur hören, sondern zuhören
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Der „Slow-Living“-Bewegung möchte den Alltag entschleunigen. "Slow Listening" setzt diesen Impuls auch beim Musikkonsum um: bewusstes Zuhören und tiefsinniges Ergründen der Werke.
Jonas Breme ist Designer aus Berlin. So wie ihm geht es wahrscheinlich vielen Musikliebhabern, die nicht mit Streaming-Diensten und sozialen Medien aufgewachsen sind. "Was waren das früher für Momente, wo ich mit meinem besten Kumpel zusammen das Geld zusammengekratzt habe, in die nächste Großstadt gefahren bin und mit dem Plattenverkäufer gesprochen habe und der uns erklärt hat: 'Das sind die neuen Releases. Das ist rausgekommen.' Und wir dann heißhungrig durchgehört haben und dann eine oder zwei Platten kaufen konnten, je nach Budget. Jetzt ist das alles einen Mausklick weit entfernt."
Zu wenig Aufmerksamkeit durch Masse
Musik ist inzwischen fast überall verfügbar und präsent. Ob im Fahrstuhl, in der Werbung oder als Playlist auf dem Smartphone. Auf vielen Festplatten liegen unzählige Stunden Musik, die wir unmöglich im Leben durchhören können. Laut einer Analyse der i-Tunes-Datenbank bleibt gut 57 % der digitalen Musiksammlung ungehört.
Dieser Trend wird durch die Musikindustrie noch befeuert, sagt der Pianist Shai Maestro: "In der heutigen Musikindustrie geht es vor allem darum, die Menschen zu überfrachten. Es geht darum, so schnell wie möglich deine Aufmerksamkeit zu erlangen. Im Zeitalter der sozialen Medien ist die Aufmerksamkeitsspanne verloren gegangen."
Dieses Phänomen im Musikkonsum lässt sich auch auf andere Bereiche übertragen. Die sogenannten Slow-Bewegungen plädieren deswegen schon seit den 80er-Jahren für einen achtsameren Umgang mit uns und unserer Umwelt. Vor allem die Slow-Food-Bewegung hat es inzwischen in den Mainstream geschafft. Zeit zum gemeinsamen Essen, die Fragen nach der Herkunft der Lebensmittel und der Genuss spielen dabei eine zentrale Rolle.
Diese Prinzipien wendet der amerikanische Musikkritiker Michelangelo Matos auch auf die Musik an. 2009 wagt er ein Experiment: Zwei Jahre lang reduziert er seinen Musikkonsum um 75 Prozent. Am Ende verspürt er deutlich mehr Ruhe und Gelassenheit. Der Begriff "Slow Listening" geht auf ihn zurück.
Spielregeln des konzentrierten Hörens
Mit voller Aufmerksamkeit zuhören, die Musik kennenlernen und nach ihrer Herkunft fragen, die Leistung der Musikerinnen und Musiker wertschätzen. All das sind sozusagen die Spielregeln für "Slow Listening". Der Musiker Dr. Clemens Goldberg sieht "Slow Listening" auch als Möglichkeit zur Musikvermittlung. Er unterstützt klassische Konzertprojekte, die sich den Slow-Listening-Kriterien verpflichtet fühlen. Dabei macht er die Erfahrung, dass die Musiker und das Publikum einen neuen Zugang zur Musik gewinnen.
"Wenn man das ganz gezielt macht, dass man sagt: 'Das ist eine wichtige Stimme. Das ist ein wichtiger Aspekt.' Dann singen die natürlich nachher auch anders. Und der Hörer, ganz klar, der wird viel stärker hineingeführt, hat weniger Angst vor dem: 'Oh Gott ist das alles fremd und verstehe ich das überhaupt?'"
Entschleunigung auf dem Plattenteller
Sicher, unseren Musikkonsum kann und muss "Slow Listening" nicht völlig umkrempeln. Könnten wir dann überhaupt noch nebenbei Radio hören? Oder reinen Gewissens in ein Konzert gehen, ohne uns vorher intensiv mit der Musik auseinanderzusetzen? Die Bedeutung von Slow Listening ist bislang auch eher marginal.
Jonas Breme hingegen glaubt daran, dass das Bedürfnis der Menschen nach einem achtsameren Musikkonsum steigt. So gibt es eine starke Nachfrage nach Konzerten, bestätigt Jonas Breme: "Es gibt einen Trend steigender Verkaufszahlen von Vinyl. Und das ist für mich Indiz genug zu sehen: Es gibt eine Sehnsucht nach einer Alternative zur Cloud und zur MP3 und zur unsichtbaren Musik, sondern dahingehend: Ich möchte wieder ein Album bewusst erleben und hören."
Der Designer Jonas Breme hat spezielle Kopfhörer designt, die ihren Besitzer dazu zwingen, in Ruhe zuzuhören. Sobald man sich nämlich bewegt, wird die Musik automatisch leiser. Slow Listening klingt nach einer Utopie. Aber vielleicht ermöglicht es einen neuen, reflektierteren Umgang mit der Musik. Und hin und wieder eine Auszeit vom hektischen Alltag. Damit wäre doch schon eine ganze Menge erreicht.