Bhutans Bruttonationalglück

Ein buddhistischer Weg aus dem Kapitalismus?

07:12 Minuten
Bunte buddhistische Gebetsfahnen hängen zwischen Bäumen im Himalaya-Gebirge in Bhutan.
In Bhutan orientiert sich die Politik nicht an ökonomischem Gewinn, sondern Glücksvermehrung. Priorität hat für die mehrheitlich buddhistische Bevölkerung unter anderem der Umweltschutz. © imago / Sergi Reboredo
Von Milena Reinecke |
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Der König des buddhistischen geprägten Staats Bhutan hat es sich zur Aufgabe gemacht, seine Bevölkerung glücklicher zu machen. Um das zu messen, wird regelmäßig das sogenannte „Bruttonationalglück“ erhoben. Sorgt das für bessere Politik?
Es gibt ein Land, wo es keine Ampeln gibt. Wo Elefanten, Kobras und Schneeleoparden zu Hause sind, wo Mönche in roten Gewändern zum Stadtbild gehören, wo sich aus jeder Familie mindestens ein Kind für ein Leben im Kloster entscheidet.

Erfolg bemisst sich nicht in Geld – sondern in Glück

Mitten im Himalaja, auf 2000 bis 4000 Metern Höhe, liegt das Königreich Bhutan. Das buddhistisch regierte Land misst den Erfolg seiner Politik nicht daran, wie viel Geld seine Einwohner erwirtschaften, sondern an dem sogenannten „Bruttonationalglück“.
Den Begriff hat König Wangchuck der Vierte spontan erfunden, als er 1979 in einem Interview nach dem Bruttosozialprodukt seines Landes gefragt wurde.
„Er wollte weg von erstens Wachstum überhaupt und zweitens vom monetären Wachstum. Dass man sagt: Wir orientieren uns nicht nur an monetären Zielgrößen, sondern wir wollen qualitative Indikatoren einbringen“, erklärt Karl-Heinz Brodbeck, emeritierter Professor für Ökonomie und Philosophie.

Glück wird per Fragebogen ermittelt

Konkret heißt das, dass Bhutan seit 2008 alle paar Jahre einen zufällig ausgewählten Teil seiner Bevölkerung per Gruppeninterview oder Fragebogen ausführlich zu allen möglichen Glücksfaktoren befragt: von Gesundheit über Bildung, Spiritualität, Resilienz bis hin zu Umweltschutz.
Daraus wird ein Index erstellt, der anzeigen soll, wie sich die Lebensqualität der Bevölkerung entwickelt. Bis jetzt ist das Bruttonationalglück der Bhutanerinnen und Bhutaner mit jeder Erhebung gestiegen.
Die Menschen sähen diese Art von Befragung als persönliche Achtung an, meint die Autorin und Reiseagentin Bernita Müller. Also als Wertschätzung. Auf ihren Reisen durch Bhutan hat sie den Einwohnern viele Fragen zum Glücksindex gestellt und sagt jetzt: Die Erhebung an sich finden sie jetzt gar nicht so spannend, weil das viel Aufwand ist. Aber sie schätzen es sehr, dass das Land und die Regierung sich um sie und um das Land kümmert.“

Die Befragung hilft, Probleme zu identifizieren

Das habe tatsächlich Auswirkungen, sagt sie: „In einer dieser früheren Interviewrunden wurde festgestellt, dass ganz viele Menschen in Bhutan unzufrieden sind, weil sie so schlechte Wegesysteme haben, also oft nur sehr beschwerlich zu ihren Häusern oder in die Stadt kommen und das manchmal Tage oder viele Stunden dauert. Dann hat die Regierung beschlossen, die Straßen zu verbessern.“
Eine Gruppe lächelnder Bhutanerinnen und Bhutanern in traditioneller Kleidung mit der Reiseagentin Bernita Müller.
Die Reiseagentin Bernita Müller auf einer ihrer Reisen durch Bhutan: Die Menschen schätzen die Glückserhebungen im Land, weil sie tatsächliche Auswirkungen haben, erzählt sie.© Wainando Travel
Dass das Handeln der Regierung sich nicht in erster Linie an Profit, sondern auch an den Bedürfnissen der Menschen orientiere, passe zur allgemeinen Mentalität der Bevölkerung, sagt Müller.

Ich denke, der allerwichtigste Unterschied ist tatsächlich, dass jede Entscheidung, die in Bhutan getroffen wird, auch die eines Bauern, dass die nie nur ausgerichtet ist an dem finanziellen Resultat, wie das bei uns doch sehr, sehr oft ist, sondern an ganz anderen Punkten. Also Umweltschutz ist ein ganz wichtiger Punkt.

Bernita Müller

Bhutan ist als einziges Land der Welt klimapositiv

Das Königreich Bhutan hat sich in seiner Verfassung dazu verpflichtet, Natur und Kultur für zukünftige Generationen zu erhalten. Mindestens zwei Drittel der Landesfläche, die insgesamt etwa der Größe der Schweiz entspricht, müssen bewaldet sein. Energie wird fast ausschließlich durch Wasserkraft erzeugt, die Landwirtschaft soll in den nächsten Jahren auf 100 Prozent Bio umgestellt werden. Bhutan ist das einzige Land auf der Welt, das mehr CO2 einspart, als es ausstößt.
Eine so radikale Klimapolitik kann in Bhutan auch deshalb so gut funktionieren, weil sie viel Zustimmung in der Bevölkerung findet. Die große Mehrheit der Bhutanerinnen und Bhutaner ist buddhistisch und sieht sich – den buddhistischen Vorstellungen entsprechend – tief mit Tier und Natur verbunden. So erlebt es Bernita Müller. Sie beschreibt die Menschen von Bhutan als sehr achtsam, bescheiden, humorvoll – und fröhlich.

Seit der Einführung des Internets steigt die Unzufriedenheit

Obwohl das Bruttonationalglück insgesamt wächst, gibt es allerdings seit 2010 eine negative Entwicklung, die vor allem Jugendliche betrifft, wie Karl-Heinz Brodbeck beobachtet: „Interessant ist ja, dass seit der Einführung des Internets die Selbstmordrate gestiegen ist, dass viele Menschen unglücklich sind. Sie hatten einen Psychiater in Bhutan, jetzt müssen sie gucken, dass sie eine Psychiatrieausbildung kriegen, weil es so viele unglückliche Menschen gibt.“  
Brodbecks Blick auf Bhutan ist kritisch. In seiner Arbeit als Professor hat er Versuche unternommen, eine buddhistische Wirtschaftsethik zu entwerfen, die in erster Linie in einer Analyse und Kritik kapitalistischer Denkmuster besteht. Und die hätten leider auch in Bhutan Einzug gehalten, sagt Brodbeck: Es gibt in Bhutan weite Teile, die eine Geldökonomie sind. Die ist nicht unabhängig, die hängt vollkommen von Indien ab.“
Bei der Währung zum Beispiel, die komplett in Abhängigkeit zur indischen Rupie ausgegeben wird. Oder beim Fleisch, das einige Menschen und Restaurants im Nachbarland einkaufen, weil im Buddhismus – und deshalb auch in Bhutan – das Töten von Tieren verboten ist. Für den Straßenbau importiert die Regierung Leiharbeiter aus Indien; im Gegenzug darf Indien Truppen an Bhutans Grenze zu China aufstellen.
Durch die Abhängigkeit von Indien sei auch Bhutan verflochten mit dem Weltwirtschaftssystem, in dem das Geld regiere, so Brodbeck: Damit könne Bhutan kein Gegenentwurf zur kapitalistischen Ökonomie sein.

Spirituelle Tradition als Wurzel

In einem wirklichen Gegenentwurf müsste man Werte wie Glück überhaupt nicht quantifizieren, findet er. Die soziale und umweltfreundliche Politik sei zwar lobenswert, wurzele aber nicht im Konzept des Bruttonationalglücks, sondern in der spirituellen Tradition und im Zusammenhalt der Bevölkerung.

Das Bruttonationalglück hat auch keine Basis in den buddhistischen Lehren oder Schriften. Es widerspricht sich nicht, sofern man das Leiden mindern möchte und das immer noch als oberstes Ziel hat – und dass man natürlich das Glück der Menschen möchte. Ein König hat die verdammte Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Menschen glücklich sind.

Das finde ich wunderbar und wenn er das tut, und es ist überzeugend, was der Jigme Wangchuck, der Junge, sagt und macht, dann ist es wunderbar. Aber das macht eigentlich jeder gute König. In Europa hat er das auch gemacht und eigentlich auch bei uns noch Politiker, die sich wirklich primär dem verantwortlich gefühlt haben – und nicht der Häufigkeit eines Fernsehauftritts.

Karl-Heinz Brodbeck

Bhutans Politik taugt nicht zur Nachahmung

Zur Nachahmung eigne sich Bhutans Politik aber nicht, sagt Karl-Heinz Brodbeck. Dafür herrschten im Westen einfach grundsätzlich zu andere Werte und zu wenig Buddhismus. Von Bhutans Prioritäten allerdings, Naturschutz, Kultur und Bildung beispielsweise, könnten wir viel lernen.
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