Nirgendwo in Polen sind die ideologischen Gräben so tief
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Vor genau einem Jahr wurde eine LGBT-Parade in Bialystok von Gegendemonstranten brutal niedergeknüppelt. Warum tut sich gerade eine Stadt mit einer reichen multikulturellen Vergangenheit wie Bialystok heute mit Vielfalt so schwer?
Andrzej Debski hangelt sich die schmale Leiter hoch, die in an der Wand angebracht ist. Nach oben, auf das Dach des Kuriengebäudes. Von hier aus hat der Pfarrer einen Blick über das Zentrum von Bialystok, der größten Stadt ganz im Nordosten von Polen. Sein Blick fällt zuerst auf die mächtige Kathedrale aus rotem Ziegelstein, ein Bau im Stil der Neugotik.
"Früher stand da eine nur eine kleine Kirche, auf dem Platz hinter der Kathedrale. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde die Kirche zu klein. Damals war Polen geteilt, Bialystok gehörte zu Russland. Der Gemeindepfarrer hat deshalb den Statthalter des Zaren eingeladen und betrunken gemacht. Er bat ihn um die Erlaubnis, eine größere Kirche zu bauen, das wurde ihm verweigert. Der Statthalter stimmte allerdings einem Anbau zu – das ist die heutige Kathedrale. Ein Anbau, der 17,5-mal so groß ist wie die ursprüngliche Kirche."
An Sommerabenden nehme er sich ein Buch hierher mit aufs Dach, sagt der Sprecher des Erzbistums. Von hier aus sieht er auch die ehemalige evangelische Kirche – heute ist sie katholisch – und die Kuppeln der größten orthodoxen Kathedrale. Der Pfarrer erinnert auch an die Synagogen, die es hier einst gab. Bis zum Zweiten Weltkrieg war etwa die Hälfte der Einwohner Juden, die deutschen Besatzer ermordeten sie fast alle.
Multikulturelle Geschichte und moderne Gegenwart
Sichtbar ist von hier aus nicht nur die multikulturelle Geschichte von Bialystok mit seinen 300.000 Einwohnern, sondern auch die Gegenwart.
"Bialystok entwickelt sich. Es gibt neue Hochschulen, es gibt renommierte Hochschulen, die Medizinische Universität etwa oder das Polytechnikum. Bialystok hat zuletzt stark von EU-Mitteln und von eigenen Mitteln profitiert. Viele Gebäude, Straßen und Plätze wurden renoviert, wir haben eine Oper bekommen und ein Stadion mit 22.000 Sitzplätzen. Der Fußballverein spielt in der höchsten polnischen Liga. Das alles führt dazu, dass die Einwohner sagen: Sie fühlen sich wohl hier. Rankings bestätigen das."
Andrzej Debski lebt seit 30 Jahren in Bialystok, mit 13 zog er mit seiner Familie her. Er mag die Stadt, erzählt er, nachdem er die Leiter wieder hinuntergestiegen ist. Nicht obwohl, sondern weil die Menschen hier noch konservativ seien.
"Das ist eine landwirtschaftliche Region. Die Menschen sind den Werten dieser Erde verpflichtet, der Tradition, der Religion. Sie sind nicht entwurzelt. Die Kinder gehorchen den Großeltern und den Eltern. Man sieht den Unterschied, wenn ein junger Mensch nach Warschau zieht – und dort diesen erbarmungslosen Konkurrenzkampf erlebt. Viele betrachten uns als Hinterwäldler, aber hier lernen die Menschen viele gute Eigenschaften, die ihnen das Leben erleichtern."
2019: Der bisher einzige "Gleichheits-Marsch" in Bialystok
Bialystok vor einem Jahr: Durch die Innenstadt ziehen Menschen mit Sonnenschirmen in den Regenbogenfarben. "Freiheit, Gleichheit, Toleranz" steht auf ihren Plakaten. Sie demonstrieren für die Rechte der LGBT-Community, also von Homosexuellen, Bisexuellen und Transsexuellen. Es war der erste und bisher einzige sogenannte "Gleichheits-Marsch" in Bialystok.
Andere Bilder zeigen, wie dieser Marsch brutal angegriffen wird. Junge Menschen werfen Feuerwerkskörper auf die friedlich Spazierenden. Sie jagen einzelne Teilnehmer, junge Frauen, auch Kinder, reißen sie zu Boden und schlagen sie zusammen. Der Polizei gelingt es nur mühsam, Ordnung herzustellen. An einer anderen Stelle fliegen Steine auf den Demonstrationszug. Die Menge skandiert unflätige Parolen, Homosexualität solle verboten werden. Ältere Damen halten dabei Rosenkränze hoch. Malgorzata Skowronska ist der Schock noch heute anzumerken.
"Es war für mich ein traumatisches Erlebnis. Da war eine riesige Traurigkeit in mir, eine riesige Enttäuschung über meine eigene Stadt – den Ort, wo ich lebe. Das bin ich viele Monate lang nicht losgeworden, und das hat bei mir auch zu Depressionen geführt."
Es herrscht ein Gefühl der Bedrohung
Die 39-Jährige steht schwarz gekleidet vor dem Universitätsgebäude in Bialystok. Hier begann der Gleichheits-Marsch – hier, wo auch ihr Arbeitsplatz ist. Denn Malgorzata Skowronska lehrt Soziologie. Sie hätte eigentlich bestens vorbereitet sein sollen auf das, was ihr bei dem Marsch begegnet. Schließlich hat sie sogar ihre Doktorarbeit zu diesem Thema verfasst: über Vorurteile, mit denen Homosexuelle konfrontiert werden. Sie hat die Betroffenen befragt und auch diejenigen, die diese Vorurteile haben. In ihrem Büro erzählt sie, warum so viele Menschen in Bialystok Homosexualität ablehnen.
"Zentral ist hier ein Gefühl der Bedrohung. Homosexuelle gefährden die öffentliche Ordnung, meinen viele. Das heißt, sie passen nicht zur Tradition, sie können keine verantwortliche Rolle in der Gesellschaft übernehmen, sie widersprechen dem Begriff der Familie. Und das darf in Polen nicht sein – und erst recht nicht in Bialystok."
Und doch: Im vergangenen Jahr nahmen in Polen so viele Menschen an sogenannten Märschen der LGBT-Community teil wie noch nie. Auch in anderen sehr traditionell geprägten Städten wie Lublin. Wieso kam es gerade in Bialystok zu dieser Zuspitzung?
Malgorzata Skowronska hat dafür zwei Erklärungen. Die erste: Die Botschaft der rechtskonservativen Regierungspartei PiS fiel in Bialystok auf besonders fruchtbaren Boden. Die Partei hatte kurz zuvor eine Art konservativen Kulturkampf geführt. Der Parteivorsitzende Jaroslaw Kaczynski war unter dem Motto aufgetreten "Hände weg von unseren Kindern". Vordergründig gerichtet gegen ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Aber mit der gut hörbaren Unterstellung: Viele Homosexuelle missbrauchten Kinder.
LGBT ist für die katholische Kirche ein Feind
Den zweiten Grund für die Eskalation sieht Malgorzata Skowronska im Verhalten der katholischen Kirche in Bialystok.
"Der Erzbischof Wojda hat sich vor dem Marsch sehr charakteristisch ausgedrückt: In Podlachien sei so etwas fremd. Ein fremdes Element auf der Erde von Podlachien. Bei so einer Wortwahl liegt es nahe, den anderen als Feind zu betrachten, dem man sich entgegenstellen soll. Deshalb hieß es auch, die Gläubigen müssten die Kathedrale gegen uns verteidigen."
Der entsprechende Brief des Erzbischofs wurde bei vielen Messen verlesen – und von vielen Gläubigen gehört.
Zurück zu Pfarrer Andrzej Debski, dem Sprecher des Erzbistums. Er findet die damalige Wortwahl auch heute noch völlig angebracht.
"Die Veranstalter hatten das Ziel zu provozieren. Sie hätten den Marsch auch durch eine andere Straße führen können, aber sie wollten unbedingt durch die Hauptstraße ziehen, an der Kathedrale und auch an der orthodoxen Kirche vorbei. Wir hatten zu Recht befürchtet, dass es zu einer Profanierung, zu einer Entweihung eines Gotteshauses kommen könnte. In Warschau kam es bei so einem Marsch zur Gotteslästerung. Das ist dann de facto eine Diskriminierung von Gläubigen, deren Gefühle verletzt werden."
Besonders tiefe Gräben in Bialystok aufgrund der Geschichte
In Bialystok sind die ideologischen Gräben, die Polen durchziehen, besonders tief. Der Grund dafür liegt in der Geschichte der Stadt, meinen Soziologen. Lange lebten hier viele Religionen und Nationen nebeneinander, und das machte den kulturellen Reichtum von Bialystok aus. Aber die verschiedenen politischen Konstellationen sorgten dafür, dass dieses Zusammenleben auch ein Konkurrenzkampf war.
Damit hat sich die Soziologie-Dozentin Katarzyna Sztop-Rutkowska in ihren Forschungen ausführlich beschäftigt. Sie ist mit ihrem Fahrrad in die Innenstadt gekommen:
"Ich habe meine Doktorarbeit über die polnisch-jüdischen Beziehungen geschrieben – auf der Grundlage der Presse in der Zwischenkriegszeit. Und da schreiben die polnischen Patrioten immer wieder diesen Satz, der auch heute so oft fällt: Das ist eine polnische Stadt. Diese Stadt versucht ständig, ihre Zugehörigkeit zu Polen zu beweisen."
Der Streit der Ethnien reicht weit zurück. Im 19. Jahrhundert, unter der Herrschaft Moskaus, sollten die Polen russifiziert werden. Später, nachdem Polen unabhängig geworden war, die Gegenbewegung: Hunderte orthodoxe Kirchen in Ostpolen wurden zerstört, geschlossen oder der katholischen Kirche übergeben. Im Zweiten Weltkrieg spielten dann die deutschen Besatzer die Ethnien gegeneinander aus – und töten fast alle Juden.
Bialystok: eine Stadt ohne Gedächtnis
Eine Geschichte, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufgearbeitet worden sei, sagt Katarzyna Sztop-Rutkowska:
"Wir sind eine Stadt ohne Gedächtnis. Das ändert sich, aber nur langsam. Die meisten Einwohner kamen nach dem Zweiten Weltkrieg aus den umliegenden Dörfern. Sie kamen in eine größtenteils zerstörte Stadt und bauten sie wieder auf. Sie haben Bildung erlangt und ihre Identität auf das gegründet, was es im Hier und Jetzt gab. Das Vergangene, das Jüdische, kannten sie einfach nicht."
Die Soziologin erinnert daran, dass es bis vor wenigen Jahren in der Stadt einen Brunnen gab, der aus jüdischen Grabsteinen gebaut war. Heute befinden sich die Grabsteine auf dem historischen jüdischen Friedhof.
Katarzyna Sztop-Rutkowska lässt den Blick über den Marktplatz schweifen, mit seinem spätbarocken Rathaus. Das zentrale Denkmal hier ist dem Republik-Gründer Jozef Pilsudski gewidmet, der nicht mal aus Bialystok stammt und hier auch nur selten zu Gast war. Das Denkmal des wohl berühmtesten Sohns der Stadt steht dagegen ein wenig versteckt auf einem kleineren Platz der Innenstadt: Ludwik Zamenhof, der Erfinder der Universal-Sprache Esperanto.
"Guten Tag", sagt Przemyslaw Wierzbowski auf Esperanto.
"Ich hatte immer Probleme damit, Sprachen zu lernen. Als Kind habe ich Englisch gelernt und in der Grundschule auch Deutsch, aber mit mäßigem Erfolg. Ich dachte, ich würde nie eine Fremdsprache sprechen. Aber dann habe ich es mit Esperanto probiert. Schon nach der ersten Stunde habe ich einen einfachen Text verstanden. Das hat mich umgehauen."
Bialystok inspirierte Esperanto-Erfinder Zamenhof
Przemyslaw Wierzbowski ist Vorsitzender der Esperanto-Gesellschaft in Bialystok. Der 34-Jährige sitzt in einem dunklen Souterrain. Früher lag dieser Raum unterhalb einer Synagoge, an die das heutige, wieder aufgebaute Gebäude nur noch entfernt erinnert. Gerade hat hier das erste Treffen der Esperantisten nach der Corona-Pause stattgefunden. Das Thema: Wie führe ich Online-Konferenzen durch?
Im Raum der Gesellschaft hängen einige Portraits vom Esperanto-Erfinder Ludwik Zamenhof. Er lebte bis 1873 in Bialystok, da war er 14 Jahre alt. Auch später erinnerte er immer wieder daran, dass es die vielen Sprachen in der Stadt waren, die ihm seine Idee gaben. Den Rathausturm verglich er deshalb schon als Kind mit dem biblischen Turm zu Babel.
Die Esperanto-Gesellschaft von Bialystok hat nur etwa 70 Mitglieder. Aber in ihr lebt der einstige Geist der Stadt noch.
"Wir knüpfen an das Erbe der Stadt in einem weiteren Kontext an, aus vielen Gründen auch an das jüdische Erbe. Nicht nur war Zamenhof jüdischer Abstammung. Auch viele Mitglieder der Esperanto-Gesellschaft in Bialystok vor dem Krieg waren Juden."
Die Gesellschaft gibt deshalb sowohl polnische Klassiker in Esperanto heraus, darunter die Literatur-Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska, wie auch jüdische Autoren. Zuletzt verlegte sie die Lieder des Krakauer Dichters Mordechaj Gebirtig. Im Ludwik Zamenhof-Zentrum in einem anderen Teil der Innenstadt betreibt sie eine Bibliothek.
Przemyslaw Wierzbowski hat sein Laptop eingeschaltet. Er spielt einige Lieder der beiden Chöre der Gesellschaft ab – ein Chor für Kinder und einer für Erwachsene.
Die ideologischen Fronten sind verhärtet
"Außer in Esperanto, in Polnisch und in Jiddisch singen sie auch in den Sprachen anderer nationaler Minderheiten, die in Podlachien leben oder einmal gelebt haben. Also auch auf Russisch, auf Weißrussisch und auf Ukrainisch. Vor zwei Jahren bei den Zamenhof-Tagen hatten wir sogar ein tatarisches Lied."
Doch Bialystok wäre nicht Bialystok, wenn nicht auch der Name Ludwik Zamenhof immer mal wieder zwischen die ideologischen Fronten geraten würde. So weigerte sich der Stadtrat, das Jahr 2017 zum Zamenhof-Jahr zu erklären – wegen dessen hundertsten Todestag. Die Abgeordneten der rechtskonservativen Regierungspartei PiS und andere konservative Lokalpolitiker waren dagegen. Man solle es mit dem Multikulturalismus nicht übertreiben, sagten einige hinter vorgehaltener Hand. Auch die örtliche Universität hat – nach langer Diskussion – nicht den Namen Zamenhof bekommen. Zu unbedeutend seien der Mann und sein Werk, sagten die Gegner der Idee.
Aber neben ihnen gibt es eben auch die anderen, die den hundertsten Todestag des Esperanto-Erfinders feiern wollten, die an das jüdische Erbe der Stadt erinnern wollen – und die sich ein weltoffenes Bialystok wünschen. Noch ist offen, wer von ihnen sich letztlich durchsetzt.