Bibliotheken und Corona

Zerbrechliche Orte des öffentlichen Raums

04:29 Minuten
Blick in die leere Bibliothek der Europa-Universität Viadrina
Die leere Bibliothek der Europa-Universität Viadrina: Was können wir als Gesellschaft aus den letzten Monaten lernen, fragt Melike Peterson. © picture alliance / Patrick Pleul /dpa / ZB
Beobachtungen von Melike Peterson |
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Für viele sind Bibliotheken Orte des Kontaktes. Der übliche Aufenthalt dort war wegen Corona lange unmöglich, nun kann man sie wieder besuchen. Die Stadtgeografin Melike Peterson beschreibt, wie die Krise diese öffentlichen Räume beschädigt hat.
Corona hat öffentliche Orte zur Sperrzone oder Opfer strikter Regulationen gemacht. Ziel ist es, dichte Menschenansammlungen und eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Jedoch haben die Krisenmaßnahmen städtisches Leben vielerorts schlagartig verändert. Trägt Corona so womöglich zum weiteren Verfall oder gar des öffentlichen Raums bei?
Die These vom Verfall der Öffentlichkeit besteht seit den 1990er-Jahren. Gemeint waren damit bislang vor allem die Zunahme von wirtschaftlichem Denken sowie Event- und Marketingstrategien bei der Planung und Entwicklung von Städten. Corona gefährdet diese Grundqualitäten des öffentlichen Raums auf neue Weise.

Kontrollierte Orte mit distanzierter Atmosphäre

Der öffentliche Raum hat sich durch Corona verändert. In vielen Städten wurden öffentliche Orte wie Bibliotheken zwar wiedereröffnet, allerdings mit zahlreichen Einschränkungen. Besuchende sollen sich nicht länger als nötig in der Bibliothek aufhalten und verweilen - eine wichtige Motivation vieler Bibliotheksgänger - und der Besuch ist weitestgehend auf die Ausleihe und Rückgabe von Medien beschränkt.
Bibliotheken sind durch diese neuen Regeln auffallend ruhig und geordnet geworden. Sie haben sich von Orten des Verweilens in rein funktionale Orte verwandelt. Es sind "gereinigte" Orte: schwierig und unbequem zu nutzen, mit wenig Raum für Spontaneität und Zufall.
Die kontrollierte Bibliothek fühlt sich auch anders an und viele Menschen erschrecken über die nun distanzierte und misstrauische Atmosphäre, die ihnen auch in anderen öffentlichen Orten entgegenschlägt. Dankbar, weiterhin Zugang zur Bibliothek und ihren Dienstleistungen zu haben, wünschen sich die meisten dennoch die normale Bibliothek - sozial und zugewandt - zurück.

Bedürfnis nach sozialen Infrastrukturen

Regierungen und Behörden greifen in Krisenzeiten oft zu Maßnahmen der Steuerung und Kontrolle. Die Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen im Rahmen der Coronakrise haben dennoch dafür gesorgt, dass sich unser Verhalten und Umgang miteinander in Bibliotheken und im öffentlichen Raum allgemein und fundamental geändert hat.
Aber es ist noch nichts verloren. Denn Krisen rücken die Bedeutung städtischer Wohnzimmer, das Bedürfnis nach ihnen und deren Erhalt weiter in den Vordergrund: Gerade dann, wenn soziale Infrastrukturen wie Bibliotheken unerwartet und sichtbar wegbrechen, wird uns als Gesellschaft bewusst, wie wichtig diese Orte für unser Zusammenleben sind.
Was können wir als Gesellschaft aus den letzten Monaten lernen? Das Coronavirus hat normales Verhalten in Bibliotheken und anderen öffentlichen Räumen stark verzerrt. Es ist gut möglich, dass selbst der vorübergehende Wegfall dieser städtischen Wohnzimmer bleibende Spuren in unserem Umgang miteinander hinterlassen wird.

Zerbrechliche Öffentlichkeit braucht Schutz

Die Coronakrise zeigt aber auch, dass der öffentliche Raum ein wichtiges Stück sozialer Infrastruktur ist und eine unabkömmliche Begegnungsstätte in der Stadt darstellt, die es sich lohnt zu schützen und zu stärken. Die Stadt der Zukunft braucht Wohnzimmer, da sich Städte zunehmend baulich verdichten, es weniger private Außenräume gibt und die soziale Diversität steigt.
Und Corona zeigt, wie schützenswert insbesondere Bibliotheken sind. Bibliotheken sind wichtige Orte des Zusammenlebens und der Öffentlichkeit, denn sie erfüllen zentrale Funktionen im Gewebe jeder Stadtgesellschaft: Sie sind Orte der Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Gesinnung. Sie sind Orte der Bildung und des Lernens, wichtig gerade für Menschen, die sonst keinen Zugang zu einem Computer oder Bildungsmöglichkeiten haben.
Und sie sind Orte des Aufenthalts, in denen man Zeit verbringen kann, auch ohne Geld auszugeben.
Welche Krisen auch kommen, Bibliotheken helfen uns, sie zu überstehen.

Melike Peterson ist Postdoktorandin der Stadtgeografie an der Universität Bremen und beschäftigt sich mit Begegnungen im öffentlichen Raum, Integration und multikulturellem Zusammenleben in der Stadt. Zurzeit untersucht sie die Bedeutung von Bibliotheken in Zeiten zunehmender Abneigung und Unbehagen gegenüber "Anderen" und Fremdartigkeit.

© Melike Peterson / privat
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