Mit Büchern die Seele heilen
07:34 Minuten
Lesen ist für viele ein Lebenselixier. Manche Therapeuten setzten Literatur auch gezielt bei Menschen mit psychischen Problemen ein. Doch kann die Lektüre eines Buchs wirklich gesund machen?
Falle Träne
Falle Träne, falle zu Erde.
Am Ende glittest Du sonst nach innen,
ins Dunkle und müsstest ein Leben lang rinnen
im kreisenden Blut.
Du musst nicht warten und sparen.
So viele sehnen sich noch zur Erde,
so viele Tränen.
Lass sie heim…
Falle Träne, falle zu Erde.
Am Ende glittest Du sonst nach innen,
ins Dunkle und müsstest ein Leben lang rinnen
im kreisenden Blut.
Du musst nicht warten und sparen.
So viele sehnen sich noch zur Erde,
so viele Tränen.
Lass sie heim…
"Dieses kurze Gedicht gehört zu meinem Werkzeugkoffer", sagt Helga Grubitzsch. Ein Werkzeugkoffer voller Gedichte, Märchen und Romane, die ihren Klientinnen und Klienten in schweren Situationen helfen sollen. Die Bremerin ist Coach, Supervisorin und Poesie- und Bibliotherapeutin. Die künstlerische Therapieform glaubt an eine Heilkraft der Sprache – durch Lesen und Schreiben.
Grubitzsch hilft Menschen dabei, ihre eigene Biografie aufzuschreiben. Die Motivation dafür ist ganz verschieden: Manche stecken in einer Krise, manche wollen eine Autobiografie schreiben und kommen nicht weiter. So oder so: Die Therapeutin ist sicher, dass Literatur heilende Kräfte hat. So könne das Tränen-Gedicht zum Beispiel Menschen helfen, Zugang zu ihren eigenen Emotionen zu bekommen. Grubitzsch erinnert sich an eine Klientin, die auf einen Mann fixiert war, der die Gefühle der Frau nicht erhörte. Ihr habe sie eine Geschichte vorgelesen von einem Vater, der mit seinem Kind im Garten Brombeeren pflückt. "Wenn sie reif sind, dann fallen sie dir von selbst in die Hand", sagt er darin zu seinem Kind. Die Metapher könne dabei helfen, eine neue Perspektive auf ein Problem einzunehmen.
Literatur als Tröster für die Seele
Auch Stephan Mühlig setzt in seinen Therapiesitzungen Bücher ein. Der Verhaltenspsychologe und Professor an der TU Chemnitz sagt, dass vor allem Selbsthilfeliteratur ihre Berechtigung habe: in der sogenannten Psychoedukation. "Zur Erläuterung und Erklärung von Störungsbildern und Therapien gibt es sehr gutes Material", so Mühlig. Manches davon sei wissenschaftlich evaluiert und eine Wirkung nachweisbar. Bisweilen könne sogar ein Buch allein dabei helfen, ein Problem zu lösen. Etwa ein Ratgeber, um mit dem Rauchen aufzuhören.
Doch auch Belletristik habe einen Platz in der Therapie. Dann etwa, wenn Autoren sich Probleme von der Seele schreiben: Patienten könnten sich darin manchmal wiedererkennen oder einen Weg aus ihrem eigenen Problem aufgezeigt bekommen. "Das kann als Modell dienen zu sagen, man kann es schaffen. Andere haben es auch geschafft", so Mühlig.
Allerdings: Als Therapeut müsse man darauf achten, welchen Menschen man welches Buch zum Lesen gebe. Studien zeigten, dass Literatur Patienten auch verunsichern könne, wenn die Informationen des Textes nicht gut auf sie abgestimmt seien. "Auch in Kliniken macht man die Erfahrung, dass nicht jede Psychoedukation hilfreich ist." Manchmal könne sie sogar einen gegenteiligen Effekt haben.
Schreiben allein kann nicht heilen
Eng verknüpft mit der Lesetherapie ist die Poesietherapie, so heißt therapeutisches Schreiben. Beide Therapieformen, sagt Mühlig, können helfen. Sie sind wirkungsvoller als ein Placebo-Effekt, aber schwächer als eine Psychotherapie. Ausgeprägte Krankheitsbilder könne das Schreiben nicht heilen, aber es könne helfen, mit der Situation besser zurechtzukommen.
Diese Erfahrung hat Friederike Hermanni gemacht. Hermanni ist ihr Künstlername. Sie hat eine bipolare Störung. Neben Medikamenten und Psychotherapien setzt sie auf das Schreiben. Es helfe ihr, das Erlebte zu verarbeiten, zu sortieren oder die Perspektive zu wechseln, sich etwa in ihre Mutter hineinzuversetzen. Die musste mit "vielen Phasen der Verdunklung" der eigenen Tochter zurechtkommen. Erst beim Schreiben habe sie genauer beleuchtet, wie es eigentlich anderen mit ihrer Krankheit ging.
Zur Reflexion nutzt Hermanni die sogenannten Morgen-Seiten: eine Technik, bei der jeden Morgen drei Blätter vollgeschrieben werden – frei von der Leber weg, ohne groß nachzudenken. Damit habe sie sich, ihre Geschichte und die Phasen ihrer Krankheit besser kennengelernt. "Insofern hat das immer etwas sehr Befreiendes, Beflügelndes und Kreatives." Die Psychotherapie selbst sei oft etwas sehr Ernstes und Strenges, bei dem "ich in die Untiefen meiner Vergangenheit eintauchen muss".
Nicht für jeden Patienten ist die Methode geeignet
Angeleitet wird Hermanni von Birgit Schreiber. Die Poesietherapeutin beobachtet, dass Schreiben ein Vehikel sein kann, um über traumatische Ereignisse zu sprechen. Der Text werde zu einer Art Container. Ob als Geschichte, Gedicht oder beim Umschreiben eines anderen Textes: "Hier haben wir dann ein drittes Objekt, das uns hilft, ein Thema zu tragen und zu bearbeiten."
Aber auch hier gelte: Nicht für jeden Patienten sei die Methode geeignet. Die Gefahr bestehe, dass sich manche noch tiefer in ihr Problem hineinschreiben. Die Therapeuten sind sich einig: Lesen und Schreiben kann ein Hilfsmittel für Menschen mit psychischen Krankheiten sein. Vor allem aber soll die Poesie- und Bibliotherapie Freude machen und Menschen so neue Perspektiven eröffnen.