Rückkehr nach Baumheide
Unsere Autorin Margarete Wohlan ist als Kind polnischer Spätaussiedler in in Bielefeld-Baumheide gelandet. Das Viertel hatte damals den schlechtesten Ruf der Stadt und gilt noch immer als Brennpunkt. Heute ist sie nach 30 Jahren an den Ort zurückgekehrt.
Die Straßenbahn ist leiser und moderner, sie heißt auch nicht mehr Straßenbahn sondern Stadtbahn. Ansonsten ist alles so wie früher: seltsam vertraut. Mit der Linie 2 fuhr ich damals von der Realschule nach Hause, nach Baumheide, dem verrufensten Viertel von Bielefeld. Je näher wir kommen, desto weniger Einfamilienhäuser, desto mehr Plattenbauten werden es.
Seidenstickerstraße – da war meine Grundschule, jetzt sind es nur noch wenige Sekunden bis zu meiner Haltestelle. Wie wird es sein? Ich war seit 30 Jahren nicht mehr hier. Damals lebten in Baumheide nur Sozialhilfeempfänger, Ausländer und Spätaussiedler – eine davon war ich, mit neun Jahren aus Polen hierher gekommen, zusammen mit meinen Eltern und drei Schwestern. 1976 war das.
Die unterirdische Haltestelle hat sich nicht verändert: immer dämmerig, grauer Beton, Graffitis, es riecht muffig. Mit der Rolltreppe fahre ich nach oben. Der Supermarkt "Marktkauf", mittlerweile Teil der Edeka-Gruppe – hier habe ich als Schülerin für meinen Führerschein gejobbt, daneben das Freizeitzentrum, die katholische Kirche und unsere Wohnung in der Plattenbausiedlung am Rabenhof. Sie ist, kurz bevor wir ankamen, fertig geworden und wurde uns zugewiesen. Typischer 70er Jahre Bau in einem Ensemble aus drei, vier und zehnstöckigen Häusern. Kürzlich muss neu gestrichen worden sein. Alles erstrahlt in hellem Weiß und leuchtendem Rot. Keiner der Namen am Klingelschild kommt mir bekannt vor. Irgendwie hatte ich gehofft, wenigstens Nachbarn von früher anzutreffen. Aber Fehlanzeige.
Damals war für mich alles fremd: ich vermisste meine Freunde im schlesischen Oppeln, konnte kein Deutsch, war einsam.
Das einzig Vertraute war die katholische Gemeinde – nicht nur wegen des Glaubens, auch wegen meiner Landsleute. Sie bestand vor allem aus Spätaussiedlern aus Polen und Russland. Die Kirche – ein modernes Gebäude, flach, schlicht, roter Klinker, in der Zeit, als wir ankamen, gebaut – steht immer noch da.
Damals ein verrufener Ort
Montagvormittag, halb zehn. Etwa 20 Leute sind zum Gottesdienst gekommen. Diese Stimmen mit dem russischen und polnischen Akzent – ich hätte sie unter tausenden wiedererkannt. Sie sind immer noch die größte Gruppe in dieser Gemeinde, erklärt Pfarrer Kovac.
"Also, in der Gemeinde, denk ich, richtige echte Bielefelder oder Deutsche aus West sind zehn."
"Zehn Prozent?"
"Nein, zeh Leute."
"Echt?"
"Ja, von 6.000. Alles andere sind Vertriebene aus Schlesien nach dem Krieg, die immer noch nicht Küche, sondern Kiiiieche sagen, ja, das sind Spätaussiedler, Russlanddeutsche, Kroaten, und von der Herkunft, denke ich, sind alle Ausländer hier. Oder mindestens mit ausländischem Hintergrund."
Blaz Kovac passt da mit seiner Biografie gut hinein: in Kroatien geboren, hat er sein Theologiestudium in Paderborn beendet und wurde dort 1982 zum Pfarrer geweiht. 1995 – nach mehreren Stationen – kam er nach Baumheide. Unfreiwillig.
"Hier war die Stelle frei, weil keiner hierherkommen wollte."
"Warum nicht?"
"Weil Bielefeld Baumheide so ein verrufener Ort damals war Polizeieinsätze, Schießerei, polnische, russische, türkische, kurdische Leute, Kampf um Freizeitzentrum, wer da was zu sagen hat, und und und. Ja.
Da wollte auch keiner hin. Ja, ich habe mir das dann angeguckt, und habe mich gefragt, wie viel Minus hast du? Das Dach war gerade fertig, und es ist alles finanziert worden, Orgeln waren da. Dann habe ich gesagt: Okay, dann komme ich."
Die Kirche war ein Stück Zuhause
Die Messe läuft wie gewohnt ab. Ich schaue mich um. Ich hatte den Raum größer in Erinnerung. Sonst ist alles noch da: die bunten Glasfenster, die Mutter-Gottes-Figur, der Altar. Hier wurde ich gefirmt, durfte während des Gottesdienstes die Lesung halten – auf Deutsch, für mich eine Auszeichnung –, meine kleinen Schwestern sind hier zur Kommunion gegangen. Es war am Anfang wirklich ein Stück Zuhause. Mein Blick fällt auf ein kleines Podest neben dem Taufstein. 26 Fotos der künftigen Kommunionkinder – es sind nicht nur slawische Gesichter, auch afrikanische und asiatische sind darunter.
"Nigeria, Ghana, und Tamilen, wir haben auch Messdiener Tamilen, Afrikaner, gut, die sind hier aufgewachsen, Kindergarten, Schule, alle staunen, wenn die dann lesen – es sind auch einige Tamilen Leser, oder Afrikaner, also wie deutlich die deutsch können, aussprechen und betonen, ohne Endungen zu verschlucken, oder undeutlich zu sprechen."
"Da werden die Klischees und Vorurteile auch ein bisschen gebrochen, oder?!
"Ja, also Eltern sprechen noch sehr gebrochen und undeutlich deutsch, aber die Kinder sind wirklich total integriert."
Es scheint, als hätte sich die Welt auch in der katholischen Gemeinde "Maria Königin" in Baumheide weitergedreht. Gleichzeitig ist sie sich treu geblieben. Wie mir damals bietet sie auch heute Fremden einen geschützten Raum, eine Art Zuhause. Ich konnte hier behütet groß werden und ankommen.
"Eine letzte Frage, Pfarrer Kovac: Sie haben gesagt, damals hieß es, ein sehr verrufenes Viertel, Baumheide, keiner wollte kommen – wie ist es jetzt? Hat sich das jetzt verändert?"
"Nein, aber geklärt. Also, Oberhand haben, denke ich, Kurden oder Aleviten. Damals waren Russlanddeutsche und Kurden, die haben sich meistens nicht vertragen oder auch gegenseitig beschossen. Und jetzt ist alles in kurdischer, alevitischer Hand."
Draußen finde ich eine Bank, setze mich und lasse mich von der Wintersonne wärmen. Nelson Mandela sagte einmal: "Wer feststellen will, ob er sich verändert hat, sollte an einen Ort zurückkehren, der unverändert geblieben ist". Das war mein Anlass, nach Baumheide zu fahren. Mit 18 bin ich von hier ins Stadtzentrum gezogen, nach dem Studium nach Berlin, wo ich bis heute lebe. Alle, die ich kenne, auch meine Familie, haben Bielefeld verlassen. Aber Bielefeld-Baumheide scheint sich über die Jahre treu geblieben zu sein. Zumindest seinem Ruf nach zu urteilen. Im Internet konnte ich zwar nachlesen, dass sich vor Ort Einiges getan zu haben scheint. Aber hat das den Ort so verändert, dass er für mich nicht mehr der gleiche ist wie früher? Und wenn ja – was heißt das für das Mandela-Zitat?
Neben der katholischen Gemeinde gab es damals noch eine zweite wichtige Instanz, in der ich unbedingt bestehen wollte: die Wellbachschule, meine Grundschule. Etwa 500 Meter von der Kirche entfernt. Als ich nach Bielefeld kam, kam ich zunächst ins Internat ins 50 Kilometer entfernte Schloss Neuhaus – um Deutsch zu lernen. Die vierte Klasse durfte ich dann in der Wellbachschule besuchen, in einer echten deutschen Grundschule. Vom Herbst ’77 bis Sommer ’78. Ich war damals zehn Jahre alt.
Noch immer viele Kinder aus Polen
Es ist Pause, als ich auf dem Schulhof ankomme. Alles wirkt etwas kleiner als in meiner Erinnerung, aber die Koordinaten stimmen: Der Eingang, die nebenan liegende Hauptschule, die Freude der Kinder über die Unterbrechung des Unterrichts – alles noch da. Ich habe mich mit dem Schulleiter Martin Homann verabredet – er nimmt mich mit in eine Klasse.
"Seit wann sind die Kinder hier in Deutschland?
"Zum Teil erst seit vier Wochen. Und sie lernen jetzt die ersten deutschen Begriffe."
"Aus welchen Ländern kommen sie?"
"Ja, überwiegend Afghanistan, Irak, das ist schwerpunktmäßig, aber auch polnische Kinder."
"Immer noch?"
"Ja, polnische Kinder haben wir viele, aber schwerpunktmäßig aus dem Irak oder aus Syrien."
Zwei Lehrerinnen unterrichten im selben Klassenzimmer – die eine übt mit einer Gruppe deutsch, die andere betreut Kinder, die über ihrem Heft gebeugt Rechenaufgaben lösen.
Homann: "Wir haben jetzt zum ersten Mal jahrgangsübergreifend in diesem Schuljahr unterrichtet, weil wir sehr schwache Kinder haben, die Eltern können sich nicht kümmern – gerade die Familien, die aus Syrien oder aus dem Irak kommen – und die Kinder brauchen eine längere Zeit, hier anzukommen. Das heißt: sie können in Mathematik vielleicht schon die Aufgaben des zweiten Schuljahres lösen, in Sprache die Aufgaben des ersten Schuljahres – dass jeder so individuell gefördert wird."
"Wie können Sie die Lehrer darauf vorbereiten, dass sie sich – oder: das ist eine sehr schwierige Aufgabe?!"
"Ist eine ganz schwierige Aufgabe! Stieß auch nicht bei allen Lehrern auf Begeisterung, muss man ganz ehrlich sagen. Erfordert sehr viel Zusatzarbeit, aber wir sind frohen Mutes, dass es klappt."
Als wir weitergehen, denke ich: Wie gut, dass meine Lehrer damals auch diese Zusatzarbeit auf sich nahmen– auch wenn ich nicht traumatisiert war wie diese Kinder hier. Und auch keine Vorstellung davon hatte, wie sehr sie sich um mich kümmerten. Allen voran meine Klassenlehrerin, Frau Krömer. Wir bleiben an den Panoramafenstern im ersten Stock stehen.
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Homann und Autorin: "Ja, gegenüber sieht man noch die Hauptschule, die gab‘s ja früher auch."
"Ja!"
"Die Zukunft ist ungewiss, es ist die einzige Hauptschule in Bielefeld noch, alle anderen Hauptschulen sind schon ausgelaufen oder laufen jetzt aus. Sie sammelt im Prinzip Schüler aus der ganzen Stadt im Augenblick und das ist auch nicht ideal, weil die Schüler das Gefühl haben, wir sind die Reste der ganzen Stadt. Man überlegt, ob man eine Realschule in dieses Gebäude setzt – das ist für unsere Schülerschaft gut, ungefähr 50 Prozent unserer Schüler gehen zur Realschule"
"Ich bin auch von hier in die Realschule, in die Luisenschule gegangen."
"Ach ja. Wir haben eine ganz intensive Kooperation mit der Luisenschule, sie nimmt sehr viele unserer Schüler – mehr als die anderen Schulen hier im Stadtteil – sie haben ein sehr gutes Förderkonzept, also sie nehmen uns zwischen 25 und 30 Schülern pro Jahr ab."
Also: das ist geblieben. Ich habe sehr gute Erinnerungen an die Luisenschule – sie hat mich fürs Gymnasium empfohlen, und damit eine Weiche gestellt, die für mein Leben folgenreich war.
"Ist das hier die Aula?"
"Ja! Wir üben jedes Jahr ein Theaterstück ein und dann können wir die Bühne nach hinten verlängern, oder jetzt Weihnachtssingen, Adventssingen, das findet dann immer hier in der Aula statt."
"Ich kann mich nämlich dran erinnern, ich war ja aus Polen gekommen, und die vierte Klasse war sozusagen meine erste Klasse richtig mit Deutschunterricht – und kann mich erinnern, dass ich hier auftreten durfte und den Erlkönig sprechen: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind... Gibt es solche Schulaufführungen am Ende der vierten Klasse hier auch noch?"
"Die Viertklässler verabschieden sich natürlich immer mit einer eigenen Vorführung – manchmal ist es Rap, manchmal ist es Breakdance, Geschichten natürlich auch, aber der Erlkönig eher nicht, ich würde sagen, da sind die neuen Medien ganz präsent bei den Kindern."
Der Erlkönig – für mich damals eine Feuerprobe. Die Ballade von Johann Wolfgang von Goethe. Deutscher ging es in meinen Augen nicht. Und ich durfte es in der Aula vortragen. Der Ritterschlag.
Pausenhelfer tragen neonfarbene Jacken
Zwei Mädchen und Autorin:
"Ihr habt so neonfarbene Jacken, was bedeutet das?"
"Das bedeutet, dass man Pausenhelfer ist und zum Beispiel, wenn einer die Schaukel nicht abgibt, weil man muss sich ja abwechseln, dann rufen die uns halt, dann müssen wir das auch erledigen, oder wenn es hier Schlägerei gibt, dann müssen wir das auch schlichten."
"Und wie wird man Pausenhelfer?"
"Nur in der Vierten, weil in der Dritten, die sind zu jung dafür."
"Und wie wird man in der vierten Klasse – also: kann das jeder werden?
"Ja, jeder der will – also die Frau Pohlmann, das ist eine Lehrerin, die lernt halt mit uns wie man Pausenhelfer wird und dann gibt sie halt auch Stunden, wie man lernt, so einen Streit zu schlichten."
"Was habt ihr da so gelernt? Kannst du dich erinnern an diesen Unterricht?"
"Wir haben so einen Zettel bekommen, da steht drauf, dass wir nicht die Polizei sind, und nicht nur, weil wir diese Westen haben, wir hier die Polizei spielen!! Und anschreien und so, dass wir mit denen halt gegenseitig, wenn die mit uns ordentlich umgehen, dass wir auch mit ihnen ordentlich umgehen."
"Und wie heißt du?"
"Helen."
"Und du?"
"Lewinia."
"Und wo kommst du her?"
"Ich komme aus Bielefeld und mein Papa kommt aus der Türkei, und meine Mama aus Syrien."
"Und du?"
"Ich bin im Irak geboren und meine Mama auch, und mein Papa auch, glaub ich. Aber mein Bruder, der kleine, der ist hier in Deutschland geboren, und der große ist, glaub ich, auch im Irak geboren."
Helen und Lewinia nehmen ihre Aufgabe sehr ernst. Und die anderen Schüler erkennen sie als Autorität an, kommen immer wieder mit Fragen zu ihnen, die sie zu beantworten versuchen.
Jeder Bielefelder weiß, dass Baumheide schwierig ist
Eine solche Schule zu leiten ist nicht leicht: 273 Kinder, von denen 90 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Martin Homann hat – genauso wie Pfarrer Kovac – gezögert, bevor er den Job als Schulleiter übernahm.
"Wie sind Sie hierhin gekommen? Waren Sie hier Schüler oder haben Sie hier Ihr Referendariat gemacht?"
"Die Kollegen haben mich hier angeworben, Sie sind zu mir gekommen und haben gefragt, möchtest du nicht bei uns Schulleiter werden."
Kommen Sie denn aus Bielefeld?"
"Ja, ich komme aus Bielefeld, wohne in der Stadtmitte."
"Und was wussten Sie vorher von Baumheide?"
"Ja, das, was jeder in Bielefeld weiß: dass es ein schwieriges Gebiet ist, und dass es keine einfache Schülerschaft ist – also es gilt als Stadtteil mit besonderen sozialen Belastungen."
"Und was hat Sie dann überzeugt, doch diese Herausforderung anzunehmen?"
"Ja, ich habe erstmal ne Woche überlegt, ob ich es wirklich mache oder ob ich es nicht mach, und ich hab‘s mir zugetraut, weil ich hatte vorher auch zwölf Jahre an der Gesamtschule gearbeitet mit ganz unterschiedlichen Schülern, mit leistungsstärkeren und leistungsschwächeren, und hab gesagt, ok, ich trau mir das zu. Und es macht einfach auch Spaß, mit diesen Kindern zu arbeiten und zu sehen, wie schnell sie auch vorwärts kommen."
Damals Rod Steward vergöttert
Ich verlasse die Wellbachschule, gehe den Weg, den ich damals von der Schule nach Hause genommen habe. Entfernungen, die in meiner Erinnerung unendlich weit erscheinen, heute aber nur Minuten brauchen. Bilder tauchen auf, Gedanken, Gefühle: Das erste aufkeimende Interesse an Jungs, die Frage, ob mich die Mädels, die das Sagen haben, aufnehmen, der erste Kuss. Mein erster richtiger Freund – später, da war ich schon 16 – wohnte in direkter Nachbarschaft zu meiner Grundschule. Und immer wieder habe ich Luftschlösser gebaut, mir vorgestellt, wie wohl mein späteres Leben aussehen würde.
Er hatte einen roten Body an, blaues Jackett, und diese unglaubliche blonde Mähne. Rod Stewart, wahnsinnig sexy, hat sich um keine Konventionen geschert – und ich habe ihn damals vergöttert. "Baby Jane" – 1983 erschienen – war das Symbol meiner eigenen Emanzipation. Ich wurde Teil des Freizeitzeitzentrums Baumheide. Und der Song war immer dabei. Sechs Jahre nach meiner Ankunft, die Zeit, als ich mich von der Kirche löste – was für eine Wandlung?!
Das Freizeitzentrum: ein flaches Gebäude, kieseliger Beton, großflächige Graffitis. Was auffällt, im Eingangsbereich heute: der Billardtisch fehlt, der Kicker auch. Für jemanden wie mich, der Vertrautes sucht, ein Unding. Gertrud Imorde-Holland, seit 1988 Leiterin des Freizeitzentrums und vertraut mit Nostalgie-Besuchern, beschwichtigt:
Imorde-Holland: "Natürlich gibt es den Billardtisch, aber nicht mehr in diesem Bereich! Da können wir rübergehen, in den Jugendbereich, und da sehen wir auch den Billardtisch. Das können wir gerade mal tun."
"Ja!! Dann nehmen wir den kürzeren Weg und gehen hier quer durch den Saal. Hallo! Hallo!"
"Wo ist denn euer Billardtisch? Ist noch nicht umgeruckelt? Nein! Ich hab keinen, der mit anpackt.
Ach guck mal, also den gibt’s noch!
Ja, den gibt’s noch, der steht nebenan. Es ist zwar nicht mehr der von vor 40 Jahren."
Ach guck mal, also den gibt’s noch!
Ja, den gibt’s noch, der steht nebenan. Es ist zwar nicht mehr der von vor 40 Jahren."
"Hier ist er, ja! Und der Kicker war auch früher da?!"
"Der Kicker war auch immer da, Kicker und Billardtisch ist aus der offenen Jugendarbeit nicht wegzudenken."
"Nee, ist schön!"
"Ja, das sind Erinnerungen, nee?!"
Der Inbegriff meiner schlaflosen Nächte
Nebenan tanzen fünf Zwölfjährige zum Dibi-Sound HipHop. Bei uns war es Jazz- und Moderndance. Ich verliere mich in Tagträumen…
"Das Haus wird in diesem Jahr 40 Jahre alt, und man sieht den Charme der 40 Jahre diesem Haus auch an."
"Ich meine, für mich war das schön, weil ich mich erinnern konnte, weil es genauso aussieht wie damals."
"Das glaube ich, und daraufhin habe ich mal auch die Litfasssäule gemacht – das war die Idee, alte Bilder einfach nochmal Menschen zuträglich zu machen – wir können hier ja mal rumgehen – alles was schwarzweiß ist, ist 1975/76, und Eröffnung und Schlüsselübergabe, man kann hier einfach nochmal."
"Ja - da nochmal rübergucken. Kannst du sagen, wer das oben ist? Das Gesicht kommt mir bekannt vor, da oben! Der mit der Zigarette."
"Ja, das ist Klaus – er war Zivi hier."
"Er war auch Zivi?"
"Ja. Nachnamen weiß ich nicht."
"Und ist der Lutz auch hier drauf?"
Lutz, Zivildienstleistender und Inbegriff meiner schlaflosen Nächte. Sah aus wie Rod Stewart. Ich weiß noch, wie ich ihn zu meinem 16. Geburtstag einlud, den ich in der hauseigenen Disco feierte. Er kam, immerhin, und schenkte mir eine weiße Rose – ich wusste, ich hatte verloren. Aber es war eine schöne Zeit.
Damals war das Freizeitzentrum ein großes Jugendzentrum mit angeschlossenen Seniorenclubs – jetzt ist es ein Bürgerhaus. Jede Generation hat ihre festen Räume und gleichviel Mitbestimmungsrecht. Eine echte, grundsätzliche Wandlung. Aber nicht die einzige, meint die Leiterin des Freizeitzentrums:
Gertrud Imorde-Holland: "Ich glaube, insgesamt hatten wir früher viel mehr Mitarbeiter, wir hatten Schulaufgabenhilfe, wir hatten Mitarbeiter für Erwachsenenarbeit, zwei für Jugendarbeit, im Laufe der vielen Jahre ist natürlich überall gespart worden, auch in dieser Einrichtung. Was geblieben ist, ist die Beratungsstelle, die wir hier im Hause haben, mit Sozialberatung, Erziehungsberatung, Ehe- und Lebensberatung, wo ich immer sage, sie in solchen Häusern anzusiedeln finde ich eines der besten Dinge, die es gibt, weil sie ist sehr niedrigschwellig und immer mit offenen Sprechstunden versehen, wöchentlich, so dass man keine langen Wartezeiten hat. Und es ist zum Glück nicht angedacht, das einzustampfen."
Woran man merkt, dass man sich verändert hat
Auch die Stadteilbibliothek gibt es noch, allerdings wird sie mittlerweile von Ehrenamtlichen geführt. Noch eine Sparmaßnahme der Stadt. Für mich war die Bibliothek entscheidend: von "Tim und Struppi" über die China-Romane von Pearl S. Buck bis hin zu Hermann Hesses "Siddharta" – ich habe alles gelesen, was es hier gab, um mein Deutsch zu verbessern. Und dabei die Lust am Lesen entdeckt.
Ich will die Teestube und Disco sehen – damals eine heißbegehrte Location, die Thekendienste wollte jeder von uns machen. Erst ab 16 war erlaubt, sich hier aufzuhalten. Ich schaue mich um: Die Theke ist noch da, die Bühne für kleine Auftritte auch, die Discokugel hängt auch noch. Unter der Decke sind die schmalen Fenster, durch die etwas Tageslicht hereinscheint. Dieses Schummerige war gewollt. Aber die Räume werden heute nur noch für Partys vermietet…
Imorde-Holland: "... und wenn wir mal Projekte machen, wo man so richtig rumsauen will oder so, da darf man das hier unten auch am liebsten."
"Ja, das sieht noch so aus…"
"Und unsere Idee für Neu ist, dass hier unten der Jugendbereich wieder einzieht, dass wir ihn von oben nach unten verlagern, weil da, wo jetzt der Jugendbereich ist, würde ich gern die Beratungsstelle professionalisieren mit eigenem Eingang, und den Jugendbereich hier ausbauen. Meine Idee ist, hier die Fenster auszukoffern, so eine Terrasse zu machen, das nach vorne anders zu öffnen – ich hoffe, dass wir das alles dürfen. Wir werden fünf Millionen zur Verfügung haben, um dieses Haus zu renovieren, und ich hoffe, dass wir damit einiges tun dürfen, was dann doch ein bisschen in die nächsten 30 Jahre oder 40 dann geht."
Und? Hatte Nelson Mandela Recht, als er sagte: "Wer feststellen will, ob er sich verändert hat, sollte an einen Ort zurückkehren, der unverändert geblieben ist"? Denn das war ja der Anlass meiner Zeitreise. Baumheide ist noch so wie damals. Es ist ein Ort, der mich geprägt, meinen Blick auf die Welt geschärft hat. Hier lernte ich zu unterscheiden, was Wert hat und was nicht. Er hat mein Leben nachhaltig verändert – und mich geöffnet für die vielen Facetten dieser Welt. Wie sich andere Menschen fühlen, die am selben Ort leben und doch Galaxien von mir entfernt sind. Diesen "Blick von einer anderen Warte" habe ich nie vergessen. Und ihn erkenne ich heute hier wieder, auch nach 30 Jahren. Das lässt mich zufrieden nach Hause zurückfahren, nach Berlin.