Daten zum Nutzen für den Kranken
Der Datenschutz untersagt die Erhebung großer Datenmengen im Gesundheitswesen in Deutschland. Für den Patienten könnten solche Big Data aber bei bestimmten Therapien durchaus positive Aspekte haben, sagt Franz-Josef Bartmann von der Bundesärztekammer.
Big Data in der Medizin könne die Wahrscheinlichkeiten des Nutzens bestimmter Therapieformen erhöhen, sagte Bartmann im Deutschlandradio Kultur. Er führte beispielsweise die medikamentöse Behandlung von Tumorpatienten an. Ihnen mute man oft sehr viel zu, ohne genau zu wissen, ob ein Medikament tatsächlich in ihrem Fall wirksam sei:
"Da hilft es natürlich, wenn man aus sehr, sehr großen Datenmengen, also vielen, vielleicht Hunderttausenden von Patienten, die in einer ähnlichen Situation sind, Erfahrungen machen kann, die weit über das hinausgehen, was man im Medizinerleben durch eigene Erfahrung dann tatsächlich auch erleben dürfte."
Bartmann verwies auf die derzeit in Deutschland geltenden Bedingungen zum Datenschutz. Daten über Patienten lägen bisher in erster Linie den Krankenversicherern vor. Diese Informationen dürften allerdings nur zu Versorgungszwecken genutzt und nicht zu Forschungszwecken gesammelt werden. Deshalb gebe es zahlreiche Initiativen deutscher Forschungsinstitute, die sich auf die Öffnung dieser Daten mit dem Ziel einer zweckgebundenen Forschung richteten.
Paradigmenwechsel im ärztlichen Selbstverständnis
In skandinavischen Ländern oder in den USA gebe es gänzlich andere Datenschutzregeln, sagte Bartmann. Änderungen in Deutschland seien Aufgabe des Staates, der so möglicherweise auch "sekundäre Kosten" in der Gesundheitsversorgung einsparen könne.
Wie viele andere Ärzte sei er der Meinung, dass man in den nächsten Jahrzehnten zu einem Paradigmenwechsel im ärztlichen Selbstverständnis kommen müsse, betonte der Telematikexperte der Bundesärztekammer:
"Die Rolle des Arztes wird in Zukunft auch mehr darauf gerichtet sein, schon im Vorfeld von Erkrankungen die Gesundheit des Patienten möglichst lange zu erhalten."
Man befinde sich am Anfang eines Bewusstseinsprozesses, der auch unter ökonomischen Gesichtspunkten ein "Gebot der Stunde" sei. Man dürfe nicht erst abwarten, bis Krankheiten ausbrechen würden, sondern müsse sie von vorneherein verhindern:
"Dass wir alle sterben müssen, das wird auch Big Data nicht verhindern."
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: In Frankfurt am Main findet gerade der 118. Deutsche Ärztetag statt, und da geht es natürlich in vielerlei Hinsicht auch um die Zukunft der Medizin, und die hat unter anderem immer mehr auch etwas mit einem Phänomen namens Big Data zu tun. Sehr, sehr einfach ausgedrückt geht es dabei darum, so viele Daten wie möglich zu sammeln und mit modernen, schnellen Computern zu verarbeiten, um gewisse Korrelationen und Trends zu erkennen. Das spielt schon eine gewisse Rolle weltweit in der Wirtschaft, kann und wird uns aber wohl auch in der Medizin begegnen. Und deshalb sprechen wir jetzt mit Dr. Franz-Josef Bartmann, er ist Präsident der Landesärztekammer Schleswig-Holstein, sitzt damit automatisch auch im Vorstand der Bundesärztekammer und ist dort unter anderem Vorsitzender des Ausschusses Telematik. Schönen guten Morgen, Herr Dr. Bartmann!
Franz-Josef Bartmann: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Was kann, oder wir blicken ja zum Teil jetzt in die Zukunft, könnte Big Data in der Medizin leisten?
Bartmann: Also Big Data ist, wie Sie richtig sagen, ja im Moment noch ein Forschungsthema, was aber tatsächlich schon unmittelbare Auswirkungen auch auf bestimmte Therapieformen entwickelt, gerade auch bei medikamentöse Therapien bei Tumorerkrankungen. Damit muten wir vielen Patienten sehr viel zu, ohne genau zu wissen, ob es tatsächlich in ihrem Falle wirksam ist.
Und da hilft es natürlich, wenn man aus sehr, sehr großen Datenmengen, also vielen, vielleicht sogar hunderttausenden von Patienten, die in einer ähnlichen Situation sind, Erfahrungen machen kann, die weit über das hinausgehen, was man im Medizinerleben durch eigene Erfahrung ja mit vergleichbaren Patienten, die sich immer im unteren zweistelligen Bereich aufhalten, dann tatsächlich auch erleben dürfte. Das heißt also, die Wahrscheinlichkeiten, dass eine Therapie wirkt hier, können mithilfe dieser großen Datenmengen ähnlich gelagerter Patientenfälle deutlich erhöht werden.
Bestimmte Fragestellungen im "Datenberg"
Kassel: Aber große Datenmengen bedeutet ja auch, es kommt ziemlich viel zusammen: Diagnosen, verschriebene Medikamente, so bekannt, die Reaktionen darauf, Ergebnisse bildgebender Verfahren. Das heißt, wir reden schon von einem sehr, sehr großen Datenberg.
Bartmann: Ja, es ist ein riesengroßer Datenberg, der aber im Einzelfalle ja nur mit ganz wenigen Daten speziell auf die Fragestellung, auf die es gemünzt ist, dann genutzt wird. Ja, das heißt, wir brauchen also sehr viele Daten, um aus diesem riesenhaften Datenpool dann die herauszufiltern, die tatsächlich für die aktuelle Fragestellung von Bedeutung sind.
Kassel: Das sind ja zwei Dinge. Wenn wir erst mal die Daten haben, ist es, wie Sie schon angedeutet haben, nicht einfach, sie korrekt auszuwerten. Aber erst mal müssen wir sie haben.
Bartmann: Ja.
Kassel: Wie werden die denn erhoben? Also reden wir erst mal noch nicht über den Datenschutz, allein schon dieser Aufwand – es sind ja auch sehr viele verschiedene Quellen dann.
Bartmann: Also aber beides hat miteinander zu tun ja, weil die Daten, die wir in Deutschland erheben, werden zurzeit ja nirgends irgendwo zu Forschungszwecken gesammelt, ja, das ist auch eine Frage des Datenschutzes, sondern sie liegen in erster Linie bei den Krankenversicherern vor, die das Ganze als Abrechnungsdaten dann tatsächlich in einer sehr großen Dichte vorliegen haben, aber diese Daten eben nicht genutzt werden dürfen für andere als Versorgungszwecke.
Initiativen deutscher Forschungsinstitute
Und deshalb gibt es große Initiativen von deutschen Forschungsinstituten, dass man eventuell mit dem Aufbau der Telematikinfrastruktur die jetzige Regelung, dass auch diese Daten ausschließlich zu Versorgungszwecken, also unmittelbaren Versorgungszwecken und nicht für Forschung genutzt werden dürfen, dass man die öffnet, um eventuell damit dann die Daten, die ohnehin erhoben werden, die bei jedem Arztbesuch erhoben werden, bei jedem bildgebenden Verfahren erhoben werden, zweckgebunden zu sammeln, um damit eben Forschung im Sinne von Big Data und Data-Mining dann durchführen zu können.
Kassel: Ich sehe da ein Problem, machen wir es mal an einem konkreten Beispiel: Wenn ich jetzt zum Beispiel ein MRT-Bild anfertigen lasse, sagen wir mal, von meinem Kniegelenk, relativ alltäglicher Vorgang, dann sieht das grundsätzlich mein Röntgenarzt, der behandelnde Facharzt, wird in dem Fall meist ein Orthopäde sein, und natürlich ich – und sonst eigentlich niemand, es sei denn, ich selber rücke es raus.
Bartmann: Korrekt.
Kassel: Aber wenn wir jetzt, was ja Sinn machen kann, damit vielleicht ein anderer Orthopäde später sagt, in 70 Prozent der Fälle, wo die Beschwerden so waren, war das das und das, so was könnte ja dieses Data-Mining bringen, müsste man ja im Prinzip jedes MRT-Bild dieser Art in diesen Datenberg einfließen lassen. Da kann man doch nicht jeden Patienten einzeln fragen: Darf ich das jetzt?
Das Beispiel USA
Bartmann: Das wird wohl sich nicht vermeiden lassen. Also bei der derzeitigen Regelung in Deutschland im Datenschutz wird das wohl unumgänglich sein, denn das sind tatsächlich sehr persönliche, schützenswerte Daten, die man nicht ohne Weiteres dann auch pseudoanonymisiert weitergeben kann. Aber Sie haben völlig recht: Im Grunde genommen, wenn dieses Bild ja nicht mit einem konkreten Namen, mit einer Person verbunden wäre, also pseudoanonymisiert, ist das Risiko ja für den Einzelnen relativ gering.
Aber dem wird immer entgegengesetzt das Risiko: Ja, was passiert, wenn sich jemand nicht an diese Vorgaben hält und es tatsächlich technisch möglich wäre, dann diese Pseudoanonymisierung wieder aufzuheben? Das sind so die Fragestellungen, die in Deutschland eine sehr viel größere Rolle spielen als in Ländern wie beispielsweise den skandinavischen, die einen ganz anderen Zugang ja zu diesen Fragen haben, oder auch teilweise in den USA. Das heißt also, dort sind die Voraussetzungen für Data-Mining allein schon in den gesellschaftlichen Bedingungen sehr viel mehr bereitet als bei uns in Deutschland.
Kassel: Die Frage ist aber auch, Herr Dr. Bartmann, inwieweit man das rein national regeln kann. Man kann ja mit Big Data auch die Ausbreitung von Epidemien in einigen Fällen schon sehr früh erkennen. Das ist nicht mehr nur Neuland.
Bartmann: Das passiert heute schon, aber mit ganz anderen Daten, das sind Daten, die beispielsweise bei Google abgefragt werden. Wenn da eine bestimmte Diagnose oder bestimmte Symptome vermehrt abgefragt werden, kann man sozusagen Wellen von Epidemien über das Land verfolgen. Also das sind Daten, die von Patienten selbst kommen, nicht von Patienten, Entschuldigung, sondern von Menschen, in der Regel Menschen, die selbst noch nicht erkrankt sind oder erste Symptome haben. Und anhand der Häufigkeit dieser Abfragen kann man regional tatsächlich kartieren und sehen, wie Epidemien sich ausbreiten. Das ist hochgradig faszinierend, zu sehen, welche Möglichkeiten da heute schon bestehen.
Kassel: Um diese Riesen-Datenmengen zu haben, muss man auch Geld ausgeben. Man braucht große Speicher, man muss es erheben, man braucht große Speicher, man braucht schnelle Computer.
Bartmann: Ja.
"Eine staatliche Aufgabe"
Kassel: Man muss auswerten, man muss es verteilen. Wer soll denn das bezahlen? Das ist ja eigentlich eine Infrastruktur im Grunde genommen. Ist das aus Ihrer Sicht eine staatliche Aufgabe?
Bartmann: Also da wird der Staat ja nicht umhin können, denn wer soll es sonst machen? Die gesetzlichen Krankenversicherungen und auch die privaten Krankenversicherungen natürlich erheben die Gelder von ihren Versicherten ja ausschließlich, um sie damit tatsächlich im Krankheitsfall dann auch versorgen zu können. Während es hier darum geht, ohne dass eine konkrete Erkrankung zur Behandlung ansteht, dort zu forschen, um eventuell Ausbruch von Erkrankungen zu verhindern oder rechtzeitig zu erkennen, um damit dann sekundär eventuell wieder Kosten einzusparen.
Aber das ist so weit im Bereich der Spekulation und der Zukunft, dass das durch die rechtlichen Bedingungen, unter denen die Kassen heute arbeiten, nicht realisierbar ist. Zum Beispiel ist dieses ganze Thema in den USA Teil eines milliardenschweren Konjunkturprogramms, was von dem Vorgänger von Obama noch eingeleitet wurde von ihm konsequent fortgesetzt wird. Da ist es tatsächlich der Staat, der massiv in diese neuen Technologien investiert.
Kassel: Wenn ich heute zu einem Arzt gehe, dann macht der ja sein privates Data-Mining. Er hat ja Erfahrungen ...
Bartmann: Richtig.
Kassel: ... und sagt eventuell: Das, was Sie mir erzählen – all die anderen, die mir das auch schon erzählt haben, hatten das und das.
Bartmann: So ist es.
Kassel: Und das kontrolliert er als erstes. Wie wird sich denn die Rolle des Arztes durch diese Big-Data-Geschichte eventuell verändern?
Die neue Rolle des Arztes
Bartmann: Also ich bin, wie viele andere, der Meinung, dass wir grundsätzlich in den nächsten Jahrzehnten zu einer Entwicklung kommen müssen, dass mehr investiert wird in den Erhalt von Gesundheit als in die Heilung von Krankheit. Und das ist allein schon ja ein Paradigmenwechsel im ärztlichen Selbstverständnis, dass wir heute davon ausgehen, jemand ist krank, kommt zum Arzt und der versucht eben, Gesundheit wiederherzustellen.
Die Rolle des Arztes wird in Zukunft auch mehr darauf gerichtet sein, schon im Vorfeld von Erkrankung die Gesundheit des Patienten möglichst lange zu erhalten. Und da sind wir erst am Anfang eines Bewusstseinsprozesses, sowohl bei Ärzten als auch in der Bevölkerung. Ob der tatsächlich so zum Tragen kommt, wie ich es vorhersehe, kann niemand genau sagen. Aber ich glaube, es ist ein Gebot der Stunde ja auch unter ökonomischen Gesichtspunkten, weil die fortschreitende Entwicklung, die Möglichkeiten, die wir haben, um eingetretene Erkrankungen zu behandeln, schon heute nur noch schwer finanzierbar sind und in Zukunft, wenn man das exponentiell fortschreibt, es tatsächlich fast unmöglich sein würde.
Also von daher bietet sich förmlich oder drängt sich auf der Gedanke, dass man nicht erst abwartet, bis Krankheit ausbricht, sondern von vorneherein verhindert, dass es dazu kommt, jedenfalls in früheren Lebensjahren dazu kommt. Dass wir alle sterben müssen, das wird auch Big Data nicht verhindern.
Kassel: Herzlichen Dank, Dr. Franz-Josef Bartmann war das, Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, über die Rolle von Big Data und überhaupt die Entwicklungen, die wir in der Medizin zu erwarten haben. Danke Ihnen und noch einen erfolgreichen Ärztetag!
Bartmann: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.