Wider die Herrschaft der Algorithmen
Er würde lieber das Risiko des Irrtums in Kauf nehmen, bekennt der Hamburger Soziologe Nils Zurawski, als allwissenden "Big Data" die eigene Selbstbestimmung abzutreten, selbst wenn sie ein bequemes Leben versprächen.
Big Data soll es möglich machen: mehr Wachstum, mehr Wohlstand in einer besseren Gesellschaft. Um dieses Versprechen einzulösen, muss sich allerdings alles, was neu entwickelt wird, der Digitalisierung unterordnen: der Verkehr, das Wohnen, das Arbeiten, die Freizeit, ja auch die Politik.
Und wer wünscht sich nicht einen Alltag, in dem sich vieles schneller und zugleich weniger kompliziert und weniger mühselig erledigen lässt. Fragt sich nur, was ein jeder von uns dadurch gewinnt oder vielleicht verliert, wenn er dem jeweils neuesten Trend folgt oder gar gezwungen ist, sich ihm anzuschließen, wenn er die Wahl, auch die Qual der Wahl, aufgibt.
Immer schon wurde nach Glück und Zufriedenheit, nach dem guten Leben gestrebt. Zu jeder Zeit anders orientierte sich der einzelne an gerade aktuellen Moden, die er mit vielen teilte – oder demonstrativ ablehnte. Derzeit wird die Welt um uns herum smart – und wir sollen auch smart werden.
Der Mensch soll smart werden
Es geht längst nicht mehr darum, den letzten Schrei mitzumachen oder auszulassen, im Baumarkt oder im Katalog die Fülle technischer Möglichkeiten zu bestaunen und aus der Distanz zu beobachten, was Nachbarn oder Freunde sich anschaffen, um sogleich das eine oder andere selbst einmal auszuprobieren.
Was sich im Laufe von Konsum und Wohlstand angebahnt hat, zieht uns vielmehr unwiderruflich in seinen Bann: die Diktatur der Annehmlichkeiten, der wir uns nicht entziehen können, auch gar nicht wollen und natürlich nicht sollen.
Begeistert entwerfen die Jünger von Big Data die Vision einer schönen, neuen, nur eben smarten Welt, die das Gute erreichen werde, wenn sich nur alle ihren Visionen anschließen würden. Es ist, als gelte es mit leuchtenden Augen einer Sekte beizutreten, ohne zu wissen, ob am Ende das Paradies oder der gemeinsame Freitod wartet.
Big Data verheißt Gutes ohne Mitbestimmung
Je mehr Daten, so die Verheißung, wir über uns und die Welt hätten, desto besser würden wir verstehen, was uns wichtig sei, desto besser könnten wir auf Probleme reagieren und uns zielgenau einbringen. Und das Smartphone wäre unser Steuerknüppel, die Effizienzmaschine des guten, ja des besseren Lebens.
Doch wer hat wirklich Information und Steuer in der Hand. Sind das noch wir? Es wäre für jeden, der auch weiterhin mitbestimmen will, jedenfalls klug, das verheißene Gute zu verweigern und als einer von gestern zu gelten, bevor er zum schlichten Empfänger algorithmisierter Analysen aus willenlos gesammelten Daten mutiert.
Das Problem ist nicht der technische Fortschritt an sich - oder der jüngste Trend zur Digitalisierung. Das Problem ist der Umgang mit der Wahrheit und ihrer Kehrseite der Täuschung – und sei sie nur Selbsttäuschung.
Big Data greift nach einer riesigen Menge von Daten, um aus diesem unerschöpflichen Quell Erkenntnisse hervorzubringen, denen auch der nicht entkommt, der sie bezweifelt. Müsste er sie doch widerlegen, um das Spiel gegen die Effizienzmaschine gewinnen können. Wer es dennoch versucht, würde sich gegen die Macht der Information stellen und dürfte gesellschaftlich ins Abseits geraten. So schwingt sich Allwissenheit zu nicht widerlegbarer Religion auf.
Cloud beherrscht Information und Problemlösung
Und kommt mit der Information zugleich die Lösung aus dem Rechner, geht mit der Entscheidungsfreiheit des Individuums auch die Willensbildung im Gemeinwesen verloren. Denn das Gute und Richtige wird vorgegeben und nicht mehr ausgehandelt sein.
Deswegen Streit und Konflikt zu wagen, Kompromiss und Lösungen zu suchen, erübrigt sich, wenn Internetunternehmen aus der Cloud die eigentliche Herrschaft über das angeblich gute Leben auf Erden ausüben.
Dass der Nutzen von Big Data sei, doch vieles praktischer zu machen, ist kein Grund, auf Freiheit und Selbstbestimmung zu verzichten. Lieber würde ich das Risiko in Kauf nehmen, mich falsch zu entscheiden, weil ich mich geirrt habe.
Nils Zurawski, geboren 1968, arbeitet als Wissenschaftler am Institut für kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg. Er beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Fragen von Überwachung und Sicherheit. 2013 habilitierte er sich mit einer Arbeit zu Raumwahrnehmung, Überwachung und Weltbildern. Er bloggt unter www.surveillance-studies.org.