Bilanz der Großen Koalition

Ist Deutschland sozial gerechter geworden?

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann vor einer herunterhängenden Gewerkschaftsfahne.
IG-Metall-Chef Jörg Hofmann. © dpa/ Sebastian Willnow
Jörg Hofmann im Gespräch mit Gerhard Schröder |
Die Arbeitslosigkeit auf Tiefstand, die Beschäftigtenzahl auf Rekordniveau. Löhne und Renten steigen. Der Staat investiert wieder mehr Geld in Schulen, Krankenhäuser und Straßen. Ist Deutschland sozial gerechter geworden? Darüber sprechen wir mit dem IG-Metallchef Jörg Hofmann.
Deutschlandfunk Kultur: Herzlich willkommen. Unser Gast heute ist Jörg Hofmann, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Metall, der größten Einzelgewerkschaft der Welt. Mit ihm wollen wir Bilanz ziehen. Wie erfolgreich war die Große Koalition aus Sicht der Gewerkschaften? Geht es nach vier schwarz-roten Regierungsjahren gerechter zu in Deutschland? Wir wollen über die Zukunft der deutschen Automobilindustrie reden und über die 28-Stundenwoche. Genau die steht auf der Wunschliste der IG Metall nämlich ganz weit oben. – Herzlich willkommen, Jörg Hofmann.
Jörg Hofmann: Guten Tag, Herr Schröder.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Hofmann, die Beschäftigung in Deutschland ist auf Rekordniveau, die Arbeitslosigkeit auf historischem Tiefstand. Da können doch auch die Gewerkschaften eigentlich nicht meckern, oder?
Jörg Hofmann: Wir meckern ganz sicherlich nicht über den Arbeitsmarkt, was die Zahl der Arbeitslosigkeit angeht. Wir meckern aber über den Arbeitsmarkt weiter, was die Ungleichheit von Arbeitsbedingungen angeht, weiter ein wachsender prekärer Sektor und leider ein eher stagnierender Sektor guter Beschäftigung. – Insoweit ja, gute Arbeitsmarktlage, aber Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt hat nicht zugenommen.
Deutschlandfunk Kultur: Ein Fünftel der Beschäftigten ist im Niedriglohnsektor beschäftigt. Ist das der Preis für hohe Beschäftigung?
Jörg Hofmann: Es ist zumindest ein Preis dafür und, ich finde, ein sehr unnötiger, weil damit letztendlich auch wirtschaftliche Leistungskraft verloren geht. Wenn man Menschen nicht mit guter Arbeit, mit guten Arbeitsbedingungen in die Arbeit bringen kann, heißt das auch weniger Produktivität, weniger Qualifikation, die eingebracht wird. Insoweit ist das Thema Niedriglohnsektor neben allen sozialpolitischen Implikationen, die der hat, und diese extreme Zukunftsbelastung, was auf uns da zukommt, wenn diese Generationen dann etwa in die Rente gehen, neben all dem ist er an und für sich für ein Hochlohn- und Wohlstandsland wie Deutschland nicht angemessen.

"Tarifverträge sind weiter notwendig"

Deutschlandfunk Kultur: Nun sind ja die Gewerkschaften für die Löhne zuständig. Warum gelingt das ihnen nicht, gerade in den unteren Tarifklassen, da für deutlichere Steigerungen zu sorgen?
Jörg Hofmann: Wir haben ganz sicherlich gerade im Bereich der Dienstleistungen ein Problem der Tarifbindung. Insoweit reichen unsere Tarifverträge im Industriebereich auch natürlich für die unteren Entgeltgruppen, und hier werden auch vernünftige Arbeitsentgelte gezahlt. Aber wir merken selbst in unserer Branche, dass etwa mit dem Missbrauch von Werkverträgen zum Lohndumping über mangelnde Tarifbindung sich auch dort Niedriglohn und prekäre Beschäftigung Platz verschafft.
Deutschlandfunk Kultur: Nun hat die Große Koalition den Mindestlohn eingeführt auf Drängen der Gewerkschaften. Endlich, sagen Sie. Hat denn der gar nichts bewirkt?
Jörg Hofmann: Doch. Natürlich hat er die größten Übel nach unten abgeschnitten. Trotzdem ist der Mindestlohn mit seiner heutigen Höhe nicht das, was wir unter guter Arbeit verstehen, auch unter gerechter Bezahlung und Vergütung. Tarifverträge sind weiter notwendig.
Und wenn ich feststelle, dass auch in unserer Branche zwischen einem tarifgebundenen Betrieb und nichttarifgebundenen Betrieb bei gleicher Tätigkeit wir eine Entgeltkluft von über 25 Prozent haben, dann macht das nochmal deutlich, dass das Gesetz sicherlich nach unten verbessern kann, aber letztendlich faire Vergütung nur mit Tarifverträgen funktioniert.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt ist die Frage: Wie kann das denn gelingen? Bleibt da dann nur der Ruf nach dem Staat, der zum Beispiel für eine höhere Tarifbindung sorgen muss, für eine stärkere Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen?
Jörg Hofmann: Natürlich kann das Tarifbindung unterstützen, aber es entlastet uns nicht von unserer eigenen Aufgabe, nämlich der ureigensten gewerkschaftlichen, Menschen zu organisieren, die Solidargemeinschaft zu stärken und mit der Kraft der Solidargemeinschaft für bessere Rechte und Arbeitsbedingungen einzutreten. Das kann der Staat uns nicht abnehmen. Das bleibt und ist originär gewerkschaftliche Aufgabe.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt sind aber die Löhne und Renten in den vergangenen Jahren doch spürbar gestiegen, auch real gestiegen Dank niedriger Inflation. Also, der Aufschwung kommt bei Beschäftigten und Rentnern an.
Jörg Hofmann: Der Aufschwung kommt an, auch deswegen, weil die Lohnpolitik, ich nehme jetzt mal nur die, die wir verantworten können, aber auch insgesamt letztes Jahr, der Gewerkschaften endlich wieder einen Gesamtsaldo, einen Kaufkraftzuwachs in den letzten Jahren für die Haushalte mit sich brachte.
Also, ich glaube, gerade deswegen, weil wir deutlich auf eine offensive Verteilungspolitik, auf eine offensive Entgeltpolitik der letzten Jahre gesetzt haben, ist ein Teil des wirtschaftlichen Wachstums darauf zurückzuführen, dass die Lohnpolitik, dass die Tarifpolitik hier einen deutlichen Beitrag geleistet hat.
Deutschlandfunk Kultur: Nun begleiten die Gewerkschaften den Wahlkampf zum Bundestag auch mit einer Kampagne zur Rentenpolitik. Sie fordern eine grundlegende Wende in der Rentenpolitik. Vereinfacht könnte man sagen: höhere Renten, aber zu Lasten der Beitragszahler, also zu Lasten der künftigen Generationen, der jungen Generationen. – Ist das nachhaltige Rentenpolitik?

Ist die Rentenpolitik nachhaltig?

Jörg Hofmann: Zunächst sagen wir, wir brauchen eine Stabilisierung des Rentenniveaus auf dem heutigen Stand und nachhaltig auch eine Stärkung des Rentenniveaus. Und was die Frage der jungen Generation angeht, ich glaube, gerade die – übrigens haben das auch unsere Beschäftigtenbefragungen deutlich gezeigt – ist sich durchaus klar, wie wichtig eine starke gesetzliche Rente auch für ihre eigene Zukunft ist. Insoweit sprechen wir nicht zu Lasten der jungen Generation, weil gerade die gesetzliche Rente immer noch die effektivste Form der Altersvorsorge ist.
Die Alternative wäre private Vorsorge. Wer vorgaukelt, private Vorsorge wäre für Jüngere günstiger als auch ein etwas höherer Beitragssatz, der mogelt.
Deutschlandfunk Kultur: Derzeit sind wir beim Rentenniveau, das, was ein Durchschnittsverdiener nach 45 Beitragsjahren erwarten kann, bei 48 Prozent ungefähr. Wenn wir nichts tun, wird es im Jahr 2040 bei 42 Prozent liegen.
Eine Stabilisierung des Rentenniveaus auf derzeitigem Niveau würde zweistellige Milliardenbeträge kosten. Wer soll das bezahlen?
Jörg Hofmann: Zunächst mal werden heute über die Rentenversicherung, über Beitragsmittel Milliardenbeträge finanziert, die letztendlich aber dem Gesetzgeber zuzurechnen sind. Sozialpolitik, etwa die Mütterrente über die Sozialversicherungsbeiträge finanziert, halten wir nicht für opportun. Und allein die Befreiung von versicherungsfremden Leistungen würde genügend Spielraum schaffen, um hier auch ausreichend die Stabilisierung des Rentenniveaus betreiben zu können.
Zum Zweiten: Wir haben in den nächsten Jahren nicht das Problem des unmittelbaren Absinkens. Und wir sind sehr der Auffassung, dass wir jetzt auch Vorsorge über den Aufbau eines Zukunftsfonds in der Rentenversicherung tragen müssen, um dann, wenn die Demografie das Problem verschärft, auch Mittel in der Rentenversicherung zu haben, entsprechende Stabilität in den Renten zu sichern.
Deutschlandfunk Kultur: Aber ist eine Stabilisierung des Rentenniveaus eigentlich das richtige Mittel, um drohende Altersarmut zu vermeiden? Davon würden ja alle profitieren, vor allem die, die viel in die Rente einzahlen. Die bekommen dann auch viel raus.
Wäre es da nicht sinnvoller, gerade die, die von Altersarmut betroffen sind, zu unterstützen, also die Geringverdiener oder die, die die ihre Arbeitsbiographie unterbrechen, weil sie Kinder erziehen, weil sie Angehörige pflegen oder weil sie arbeitslos sind? Das sind ja diejenigen, die im Alter am stärksten mit Armut rechnen müssen.
Jörg Hofmann: Das teile ich, dass allein der Blick auf die Frage des Rentenniveaus nicht ausreichend ist. Wir haben eine große Armutsquelle etwa im Bereich der Erwerbsminderungsrenten, die vollständig unzureichend sind, um Menschen, die ohne Schuld über Krankheit nicht mehr erwerbsfähig sind, abzusichern im Alter. Wir finden die Gedanken und Diskussionen über die Solidarrente, die über der Grundsicherung liegt und gerade die, die doch über Jahre eingezahlt haben, aber eben nicht ausreichend Rentenjahre ansammeln konnten, besser zu stellen als die, die keine Leistungen in die Rentenversicherung geleistet haben, das sind Felder, wo wir uns genauso bemühen müssen, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, wie die Frage des Rentenniveaus der gesetzlichen Rente. Da teile ich Ihre Ansicht. Allein der Blick darauf wäre unzureichend.
Deutschlandfunk Kultur: Die gute Konjunktur, die hohe Beschäftigung sorgt ja dafür, Sie haben das auch angemerkt, dass die Steuereinnahmen hoch sind, dass auch die Sozialkassen gut gefüllt sind. Jetzt ist ja die Frage: Was macht der Staat, was macht die Politik mit diesen Einnahmen?
Wir sehen auf der anderen Seite, in Schulen bröckelt der Putz. Es fehlt an Erzieherinnen zum Beispiel in Kindertagesstätten. Straßen und Brücken sind marode, so marode, dass sie teilweise gesperrt werden müssen.
Verpassen wir derzeit eine Chance, dieses Land zukunftsfähig zu machen?

In die Zukunft investieren - aber wie?

Jörg Hofmann: Ich befürchte: Ja. Wir verpassen das in zwei Richtungen. Die eine haben Sie angedeutet, dass wir die gute Kassenlage, aber auch das Niedrigzinsumfeld nicht ausreichend nutzen, Fehler der Vergangenheit, fehlende Investitionen in Infrastruktur, in Bildung, aber auch in gut ausgebildetes Personal, etwa im Bereich von Bildung und Erziehung, auch zu korrigieren. Deswegen fordern wir auch konkrete Infrastrukturinvestitionen ein.
Auf der anderen Seite glaube ich, Politik ist gefordert Antworten zu liefern auf den Transformationsprozess, vor dem Deutschland wie auch die gesamte Industrie- und auch Dienstleistungsgesellschaft steht. Digitalisierung, Digitalisierung der Produkte, Digitalisierung der Prozesse, die Frage stärkerer und richtig notwendiger Umwelt- und Klimaregulation wird unsere Branchen massiv verändern. Und die Frage, wie gehen wir das strategisch so an, dass nicht im Ergebnis wenige viel, viel zu viel arbeiten und viele keine Arbeit mehr haben, das sozusagen jetzt in den Mittelpunkt von Politik und Strategie zu stellen, setzt auf der einen Seite Investitionen voraus zur Korrektur von Fehlern in der Vergangenheit, aber auch Investitionen in die Zukunft und insbesondere in die Bildung.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Hofmann, Sie sind nicht nur Vorsitzender der Industriegewerkschaft Metall. Sie sind auch Sozialdemokrat. Wenn wir jetzt auf Ihre Partei schauen, dann sehen wir, die Aussichten für die Bundestagswahlen in drei Wochen sind nicht sonderlich rosig. Die SPD dümpelt bei 22, 23 Prozent – je nach Umfrage.
Was macht die SPD falsch? Die hat doch gerade die Themen, die Sie auch genannt haben, soziale Gerechtigkeit, mehr für Bildung tun, gegen prekäre Beschäftigung, auf ihr Schild gehoben. Sind das die falschen Themen vielleicht?
Jörg Hofmann: Ich glaube, es sind nicht die falschen Themen, es ist die große Vielzahl von Themen, die gerade im Wahlkampf gespielt werden, die manches Profil nicht mehr so richtig deutlich erscheinen lassen.
Ich bin jetzt keiner, der meiner Partei in dem Punkt Ratschläge geben soll. Und als IG-Metall-Vorsitzender steht mir das schon gar nicht an. Sondern ich kann nur anmahnen, dass sich Politik und alle Parteien auf die Punkte konzentrieren, die ich gerade vorher beschrieben habe, nämlich in die Zukunft zu investieren und die Fehler der Vergangenheit fehlender Investitionen angesichts der guten Kassenlage und der niedrigen Zinsen auszugleichen.
Deutschlandfunk Kultur: Vermissen Sie da eine klare Linie bei der SPD?
Jörg Hofmann: Mir wäre manches klarer deutlich lieber. Gerechtigkeit nur zu benennen ist das eine. Gerechtigkeit konkret durch zu buchstabieren ist das andere. Das überzeugt, glaube ich, die Bürger deutlich.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Hofmann, wir haben es schon mal kurz angesprochen. Selbst der Internationale Währungsfond fordert seit geraumer Zeit immer wieder, die Löhne in Deutschland müssen stärker steigen, auch um internationale Handelsungleichgewichte auszugleichen und die Kaufkraft hier im Land zu stärken. Trotzdem passiert da nicht so richtig viel, wenn wir sehen, im vergangenen Jahr waren es 1,9 Prozent real, in diesem Jahr 0,8 Prozent insgesamt, die die Löhne angestiegen sind. – Was läuft da falsch?

Die Industrie boomt

Jörg Hofmann: Das ist sicherlich das Thema, dass wir eine sehr ungleiche Entgeltentwicklung haben zwischen den Sektoren, die übrigens die Sektoren sind, die am stärksten im globalen Wettbewerb ausgewiesen sind, nämlich den Industriesektoren, der Exportindustrie, mit sehr vernünftigen Lohnentwicklungen, und auf der anderen Seite leider das Delta, das im Dienstleistungsbereich nicht kleiner, sondern eher größer wird. Das heißt, wir haben eine gespaltene Lohnentwicklung auf der einen Seite.
Wir hatten aber in den letzten beiden Jahren durchaus eine positive Reallohnentwicklung. Sie haben es angedeutet. Und wenn sie auf die Außenhandelsbilanz, gerade den Außenhandelsbeitrag der letzten zwei Jahre schauen, werden Sie sehen, dass wir über steigende Importe gerade 2016 ein nahezu ausgeglichenes Außenhandelsergebnis hatten. Insoweit sind die Ratschläge richtig.
Dazu gehört aber auch staatliche Investition, nicht nur privater Konsum, öffentliche und private Investitionen, um die Nachfrage zu erhöhen, damit auch die Nachfrage nach Importgütern zu erhöhen, und dass auf der anderen Seite die Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften nicht in allen Sektoren eine gleich hohe ist und über den Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigung zudem diese Handlungsfähigkeit deutlich geschwächt wurde.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt steht eine neue Tarifrunde in der Metallindustrie an. Ende des Jahres laufen die entsprechenden Tarifverträge aus. Für die vergangenen zwei Jahre haben Sie knapp fünf Prozent durchsetzen können. 4,6 Prozent waren es, glaube ich, exakt. – Können wir also davon ausgehen, dass Sie da in der kommenden Tarifrunde nochmal deutlich zulegen?
Jörg Hofmann: Ich sehe jetzt gerade eine Industrie, die boomt, die boomt in allen Branchen, die Ergebnisse 2016 erwirtschaftet hat, die im Moment deutlich den Aktionären und Eigentümern Freude macht. Aber es sollte auch den Beschäftigten Freude machen. Dafür wird auch die IG Metall jetzt in der nächsten Tarifrunde eine ordentliche Entgelterhöhung einklagen.
Wir sind jetzt am Beginn der Diskussion in den Tarifkommissionen, was eine angemessene Forderung für das Jahr 2018 sein wird. Ich will da nicht vorgreifen, aber es gibt keinen Grund zu Bescheidenheit.
Deutschlandfunk Kultur: Kompliziert wird die kommende Tarifrunde, weil es nicht nur um Lohnprozente gehen soll, sondern auch um Arbeitszeiten. Die IG Metall fordert, vereinfacht gesagt, die 28-Stunden-Woche zumindest für bestimmte Beschäftigtengruppen, also eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit – etwa, wenn man Kinder erziehen will oder Angehörige pflegen will.
Wie soll das funktionieren? Wie wollen Sie das durchsetzen?
Jörg Hofmann: Also, zunächst fordern wir nicht eine kollektive Verkürzung der Arbeitzeit, sondern was wir wollen, ist ein individuelles Wahlrecht der Menschen, temporär, zeitlich befristet die Arbeitszeit so zu gestalten, dass es zum Leben passt und die Arbeitszeit entsprechend bis zu 28 Stunden absenken zu können.
Arbeitszeiten, die zum Leben passen, sind gerade für die Industrie, glaube ich, auch ein wichtiges Werbeargument, um das Thema Fachkräfte und Fachkräftemangel angehen zu können, auch gerade für Frauen, wo wir immer noch einen beschämend niedrigen Beschäftigungsgrad haben, die Industrie attraktiv zu machen. Und wir sind auch der Auffassung, dass diese Möglichkeit allen zur Verfügung stehen soll, das heißt, insbesondere auch denen in unteren Entgeltgruppen, die sich oft eine verkürzte Arbeitszeit nicht leisten können, dann etwa, wenn etwa Kinder zu pflegen sind oder Familienangehörige zu pflegen sind oder auch, wenn ganz belastende Arbeitszeiten vorliegen.
Wir sehen die Ausweitung von Schicht- und Wochenendarbeit mit extremen Belastungen für die dort Beschäftigten, was ihre Gesundheit angeht.

Thema 'Pflege Familienangehöriger' - ein wachsendes Problem

Deutschlandfunk Kultur: Jetzt sagen aber ausgerechnet die Arbeitgeber, das verschärft den Fachkräftemangel noch. Gerade jetzt gibt es ja schon Branchen, in denen es den Unternehmen schwer fällt, freie Arbeitsplätze zu besetzen. Mit einer 28-Stundenwoche würde sich das Thema ja noch verschärfen.
Jörg Hofmann: Ach, wissen Sie, eine Branche, die zwanzig Prozent Frauen beschäftigt, die bekanntermaßen fünfzig Prozent der Erwerbstätigen stellen, sollte sich andere Gedanken machen, als jetzt anzufangen Erbsen zu zählen, sondern sich die Frage stellen: Wie kann ich attraktiv werden im Ringen um Fachkräfte für morgen? Da sind Arbeitszeiten ein ganz entscheidender Faktor. Die Menschen wollen Arbeitszeiten, die zu ihrem Leben passen. Sie wollen nicht nur den Flexibilitätsansprüchen der Arbeitgeber ausgesetzt sein. Lebensqualität macht sich immer zunehmend auch im Bewusstsein der Menschen über die Verfügbarkeit von Arbeitzeit deutlich.
Deswegen bin ich mir sehr sicher, dass etwas länger und nachhaltig gedacht es gerade auch für die Metall- und Elektroindustrie gut wäre, attraktive Arbeitszeitmodelle anbieten zu können.
Deutschlandfunk Kultur: Das mag Großkonzernen wie Daimler oder VW ja noch relativ leicht fallen, das zu organisieren. Aber wie sollen das kleine und mittlere Betriebe schultern, wo das ja dann schon ganz anders ins Kontor schlägt, wenn da ein paar Leute sagen, ich mache jetzt nur noch 28 Stunden?
Jörg Hofmann: Ich bin grundsätzlich der Auffassung, mit entsprechenden Ankündigungsfristen kann sich jeder Betrieb darauf einstellen, dass einzelne Arbeitnehmer sagen, ich möchte mal kürzer treten aus diesem und diesem Grunde. – Wie das im Einzelnen zu regeln ist, wie lang Ankündigungsfristen aussehen, was das heißt im Umfang von Arbeitszeitverkürzungsoptionen für Einzelne, das lassen Sie uns in den Tarifverhandlungen klären. Es gibt keinen Tarifvertrag, der nicht zwei Unterschriften trägt. Insoweit werden die Arbeitgeber genauso überzeugt sein müssen von dem Ergebnis wie wir.
Deutschlandfunk Kultur: Würden Sie denn sagen, mit einer deutlichen Verkürzung der Wochenarbeitszeit sind wir dann auch bereit, auf Lohnprozente zu verzichten? Das muss ja am Ende ein Gesamtpaket geben.
Jörg Hofmann: Da sehe ich keinen Zusammenhang. Einerseits die Branche attraktiver zu machen und für die Beschäftigten sinnvolle Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung zu öffnen und das Thema der Entgelterhöhung, sind zwei paar Stiefel. Dort, wo Volumen bewegt werden, etwa im Bereich des Entgeltausgleiches, werden die Arbeitgeber sicherlich uns das in Rechnung stellen wollen. Jetzt müssen wir mal das Gesamtpaket im Ergebnis ansehen.
Ich finde, dass gerade das Thema Pflege Familienangehöriger ein wachsendes Problem und ein wachsender Sachverhalt auch bei unseren Kolleginnen und Kollegen ist, oder das Thema von Kindern und deren Betreuung bei eben nicht garantierter Ganztagsbetreuung auch im Schulalter, das sind Sozialleistungen moderner Art. Diese Sozialleistungen sollte eine Industrie, die Milliardenprofite Jahr für Jahr ausweist, sich durchaus auch zu Eigen machen. Dafür wird die IG Metall antreten.
Deutschlandfunk Kultur: Würden Sie es ausschließen, dass es einen Tarifabschluss geben kann, der nur eine Lohnforderung beinhaltet und die Arbeitszeiten unberücksichtigt lässt? Ist das eine Bedingung für einen Abschluss?

Es bringt nichts, sich den Schwarzen Peter zuzuschieben

Jörg Hofmann: Ach, wissen Sie, wenn unsere Tarifkommissionen sich entschieden haben, dieses Forderungspaket aufzustellen, dann hat die IG Metall das Selbstbewusstsein, auch zu diesen Punkten mit einem Ergebnis zurückzukommen.
Deutschlandfunk Kultur: Tacheles im Deutschlandfunk Kultur mit Jörg Hofmann, Vorsitzender der IG Metall. Herr Hofmann, wir müssen über die Zukunft der Automobilindustrie sprechen, eine Schlüsselbranche in Deutschland, eine Schlüsselbranche auch für die IG Metall. Dort sind Sie gut organisiert. Dort haben Sie auch viel zu sagen. Sie sitzen in den Aufsichtsräten der wichtigsten Automobilkonzerne.
Jetzt wissen wir seit zwei Jahren, Volkswagen hat bei der Abgasreinigung manipuliert. Inzwischen wissen wir auch, auch andere Automobilhersteller haben getrickst und getäuscht. Jetzt hören wir aus den Konzernzentralen nach wie vor unisono: Wir haben davon nichts gewusst. Wir sind da ganz unbeteiligt. – Haben Sie den Eindruck, dass die Automobilhersteller schon die Zeichen der Zeit erkannt haben?
Jörg Hofmann: Ich würde das nicht unbedingt so sehen. Vor allem ärgert es mich ohne Ende, dass manche Manager immer sich noch auf den hohen Ross glauben, wo ein bisschen Demut geboten wäre.
Wer Kunden so betrügt und bescheißt, kann nicht mehr mit dem Selbstbewusstsein auftreten, allein wir haben die automobile Zukunft im Auge und lassen uns nicht beirren, von dieser lästigen öffentlichen Debatte.
Ich denke, wir müssen auch schauen, klar zu unterscheiden zwischen dem, wo über Betrug gehandelt wurde, dort auch die Verantwortlichkeiten im Unternehmen zu klären, da sind wir übrigens in den Aufsichtsräten gefordert. Auf der anderen Seite geht’s aber auch da drum, dass wir die da schon zu Recht angeheizte öffentliche Debatte jetzt noch mal verschärft bekamen durch die Diskussion um den Diesel und damit manche Irrationalitäten, die gerade in den letzten Wochen die öffentliche Debatte bestimmen.
Deutschlandfunk Kultur: Wie kann man denn jetzt das Vertrauen wieder zurückgewinnen? Bei AUDI hat es zuletzt personelle Wechsel im Vorstand gegeben. – Was fordern Sie? Was müsste passieren?
Jörg Hofmann: Der Austausch von Köpfen ist sicherlich in Teilen geboten. Aber es ist nicht die Lösung. Die Frage ist: Wie kriegt die Automobilindustrie wieder Vertrauen beim Kunden zurück, Vertrauen in der öffentlichen Reputation?
Hier hat die IG Metall schon seit Jahren eingefordert, dass wir endlich mehr Transparenz brauchen, mehr Verbrauchernähe im Ausweis von etwa Verbrauch und Emission. Die Politik hat die Verantwortung mitgetragen. Sie hat diese intransparenten Zulassungsprozesse mit gestaltet. Insoweit sehe ich sie genauso in der Mitverantwortung, jetzt mit den Folgeproblemen umzugehen wie die Industrie. Es bringt uns jetzt gar nicht weiter, sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuzuschieben.

"Politik macht sich das gerade zu leicht"

Deutschlandfunk Kultur: Wir müssen auch über die Verantwortung der Industriegewerkschaft Metall sprechen. Ich habe das angesprochen. Sie sitzen in vielen Aufsichtsräten. – Müssen Sie sich da auch die Frage stellen, ob Sie früh genug die Hinweise gesehen haben, ernst genommen haben, nachgehakt haben? Was ist denn da los?
Es gab ja schon seit vielen Jahren Hinweise darauf, dass da bei den Abgaswerten manipuliert wird.
Jörg Hofmann: Ich glaube, da müssen wir zwei Sachen unterscheiden. Denn Ausmaß von Beschiss und Betrug, der dort teilweise stattfand, konnten wir nicht ahnen, haben wir nicht geahnt.
Auf der anderen Seite haben Sie vollkommen Recht. Schon seit Jahren ist offensichtlich, dass es mangelnde Transparenz gibt und zwischen dem, was ausgewiesen ist und was real verbraucht oder emittiert wird, enorme Unterschiede bestehen. Deswegen habe ich gerade schon darauf hingewiesen, die IG Metall, ich glaube, erstmals vor 25 Jahren, über die Notwendigkeit neuer Mobilitätskonzepte und mehr Umweltfreundlichkeits- und Verkehrskonzepte vorgelegt. Wir waren die letzten Jahre immer Mahner, haben letztes Jahr in einem 10-Punkte-Programm das nochmal sehr konkret zugespitzt.
Deutschlandfunk Kultur: Trotzdem nochmal die Frage: Hätte da auch die IG Metall kritischer sein müssen?
Jörg Hofmann: Wir waren kritisch. Was wir vielleicht unterlassen haben, ist, dass wir das Thema sehr stark in der Branche und weniger in der Öffentlichkeit debattiert haben. Deswegen, muss man heute feststellen, ist einerseits die IG Metall immer noch die Kraft, die die höchste Glaubwürdigkeit in der Debatte hat. Aber auf der anderen Seite würde es uns auch gut tun, das werden wir also auch verstärken, den Diskurs mit der Zivilgesellschaft, wie geht es denn eigentlich weiter mit dieser Branche mit der Balance zwischen Umwelt, Klimaschutz, Innovation und Beschäftigung, zu führen.
Deutschlandfunk Kultur: Es drohen Fahrverbote. Gerichte werden darüber entscheiden. Die Politik, speziell der Verkehrsminister, auch die Autoindustrie, versucht das zu verhindern, will sich irgendwie durch mogeln. – Was sagen Sie? Fahrverbote, ist das zurzeit auch zum Schutz der Menschen in den Städten eine zwangsläufige Folge?
Jörg Hofmann: Ich finde, Politik macht sich das gerade zu leicht, Industrie auch. Weil, richtig ist, die Gerichte werden entscheiden, wenn wir keine Konzepte auf den Tisch legen, die gerade auch bei hohen Emissionswerten Antworten geben. Allein das Verschieben des Themas ist keine Antwort.
Die IG Metall hat deswegen auch letztes Jahr schon vorgeschlagen, sich Gedanken zu machen über eine blaue Plakette, das ist jetzt übrigens auch Forderung des Gemeinde- und Städteverbundes, mit entsprechenden Übergangsfristen und Kriterien, Kriterien, die vor allem aber auch dazu dienen, dass jetzt nicht ein abrupter Verfall der Restwerte der Fahrzeuge eintritt, und trotzdem nachhaltig es Höchstwerte der Belastung in Städten gibt.
Gerade die, die die ältesten Fahrzeuge fahren, sind oft die, die am wenigsten das Geld haben, sich neue zu leisten. Aber Mobilität muss ein Recht sein für alle, ist auch lebensnotwendig für viele, die ihren Arbeitsplatz nur so erreichen können.

Neue Beschäftigungsmöglichkeiten durch Elektromobilität?

Deutschlandfunk Kultur: Herr Hofmann, aus Messungen verschiedener Institute wissen wir, dass selbst modernste Dieselfahrzeuge der Euro-6-Norm die Emissionswerte für Stückoxide im Straßenbetrieb teilweise um ein Vielfaches überschreiten. – Hat der Diesel noch eine Zukunft oder ist er ein Auslaufmodell?
Jörg Hofmann: Moderne 6D-Euro-Diesel haben sicherlich eine deutlich geringere Belastung und Emission. Insoweit hat der Diesel eine Zukunft. Der Diesel ist eine unverzichtbare Brückentechnologie, weil er deutlich weniger an CO2 ausstößt wie ein Verbrenner. Und solange die Elektrifizierung, ich sage mal, sich nur in ziemlichen Schneckenschritten nach vorne entwickelt, werden wir diese Technologie brauchen.
Deutschlandfunk Kultur: Haben die deutschen Automobilhersteller die Elektromobilität verschlafen?
Jörg Hofmann: Na ja, ich sage mal so: Sie haben sich lange damit beschäftigt – nicht mit dem ausreichenden Elan.
Wir haben herstellerabhängig heute durchaus ein Angebot an Elektrofahrzeugen. Wir haben aber leider keine Käufer für Elektrofahrzeuge. Nehmen Sie mal den i3 von BMW als Beispiel, durchaus attraktive Modelle, wo der Käuferstand fehlt. Warum? Weil erstens die Infrastruktur noch vollkommen unzureichend ist, um den gleichen Fahrkomfort zu garantieren, weil zweitens die Preise trotz staatlicher Subventionen noch deutlich oberhalb eines Verbrenners liegen. Und da beißt sich die Katze oft in den Schwanz.
Ich glaube, der richtige Weg wäre, das Infrastrukturthema jetzt deutlich anzugehen. Etwa das Thema Schnellladen wird eine Voraussetzung sein. Das sind Milliardeninvestitionen, die notwendig wären, um Elektrofahrzeuge attraktiv auch im Betrieb zu machen.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Hoffmann, die Zukunft wird der Elektromobilität gehören. Das Problem für Sie als Gewerkschaft wird sein, dass dafür viel weniger Beschäftigte benötigt werden als für die Produktion von Diesel- oder Benzinfahrzeugen.
Müssen wir uns darauf einstellen, dass in der Automobilindustrie auf mittlere Sicht massenhaft Arbeitsplätze abgebaut werden?
Jörg Hofmann: Das ist richtig, dass Elektrofahrzeuge weniger Arbeit verlangen. Auf der anderen Seite entstehen durch die Digitalisierung des Fahrzeuges neue Beschäftigungsverhältnisse, etwa durch neue Mobilitätsdienstleistungen, die Konnektivität automatisiertes Verfahren. – Was das im Saldo heißt, kann heute keiner sagen. Das hängt auch stark vom Wachstum dieser Branche ab. Was aber jeder sagen kann: Hunderttausende der Branche werden andere Tätigkeiten in Zukunft haben, als sie heute haben.
Da liegt die Riesenherausforderung auch gerade für uns als Gewerkschaften, dass hier keiner unter die Räder kommt und jeder eine Chance hat, auch in der Mobilitätsindustrie der Zukunft.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Hofmann, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Jörg Hofmann: Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Schröder.
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