Bilanz des Theaterfestivals "Impulse"

Politik, wohin das Auge schaut

"Orpheus in der Oberwelt - Eine Schlepperoper" von andcompany nach der Oper von Monteverdi 2014 im Hebbel am Ufer Berlin.
Die Berliner andcompany sind mit "Orpheus in der Oberwelt - Eine Schlepperoper" beim "Impulse"-Festival zu Gast. © imago
Von Michael Laages |
Herausragende Produktionen der freien Theaterszene werden seit 1990 beim "Impulse"-Festival in den Rhein- und Ruhrmetropolen gezeigt. Politische Themen, allen voran die neuen Völkerwanderungen, standen in diesem Jahr im Mittelpunkt der risikofreudigen Stücke.
Da staunen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Kölner "Altstadtlauf" nicht schlecht – wo die Route für sie durch den Yachthafen am Rhein führt (und an der Rückseite vom "Kunsthaus Rhenania" vorbei), schauen sie plötzlich eineinhalb Dutzend anderen, allerdings nackten Wesen beim Rückwärtslaufen zu.
Das "Nature Theatre of Oklahoma", seit den sonderbar rituellen Lebens-Dokumentationen fürs Wiener Burgtheater (auch beim "Theatertreffen" gezeigt) ein starker Tipp in der freien Szene, dreht einen Film in Köln. "Germany 2071" soll er heißen, von Deutschland in dieser fernen Zukunft erzählen und nächstes Jahr beim Festival Premiere haben. Neben einem flüchtenden Paar sowie einer älteren Dame mit Hündchen kommen darin Aliens in Gestalt entlaufener Zuchthengste und weibliche Polizisten vor, allesamt nackt, wie gesagt, und – wie gerade zu hören – auch schön schrill und laut. Denn hinter ihnen rollt dampfend ein "Sumpf-Monster" heran; der führende Wagenbauer des Düsseldorfer Karnevals hat diese Riesen-Figur zum Theater-Dreh nach Köln ins Exil geschickt.
Und ja: Rückwärts rennen müssen Hengste und Bullinnen tatsächlich...
"Es wird alles rückwärts gedreht; das heißt: es wird vorwärts geprobt, rückwärts gedreht und dann vorwärts wieder abgespielt später im Film..."
... erklärt der Aufnahmeleiter. Wenn hinterher der Film dann wieder vorwärts läuft, sieht die Rennerei recht verrückt und eckig aus, halt wie vielleicht in ferner Zukunft. Das ist sicher der kurioseste Beitrag zum Theaterfestival "Impulse" gewesen – in der Opern-Baustelle der Stadt, beim WDR und an vielen anderen Orten war die "Oklahoma"-Crew tätig, im Festival-Finale heute Abend auch noch mal; Fortsetzungen folgen übrigens demnächst in Berlin. Ob und wie die Truppe verortet werden kann im eher politischen Spektrum des Festivals, darf durchaus im Unklaren bleiben – weil’s halt Spaß macht, den Dreharbeiten zu folgen, nackt oder nicht, mit oder ohne Monster.

Ein falscher Prediger als "Maschinengewehr Gottes"

Boris Nikitins Berliner Produktion "Martin Luther. Propagandastück" (uraufgeführt beim jüngsten Heiner-Müller-Festival) geht da eher an Nieren und Nerven. Zum lieblichen Gesang eines Pankower Gospel-Chores bewährt sich ein falscher Prediger als "Maschinengewehr Gottes" in Billy Grahams seligem Angedenken Religions- und Atheismus-Theorien schwurbeln wirr (und manchmal richtig blöde) durcheinander, und dann kommt der Prediger letztlich doch nur bei Erich Mielkes verlogener Verzweiflung an, im Volkskammer-Gestammel "Ich liebe doch alle, alle Menschen!" Nikitins Text beschwört aber auch die befreiende Kraft, "Nein!" zu sagen – akkurat das hat dieser zerfaselte Theaterabend unbedingt verdient.
"Ich bin 1972 geboren, in Heidelberg, ich habe mit 19 mein Abitur gemacht, in Schwetzingen, und bin zur Bundeswehr damals; habe dann vier Jahre bei der Bundeswehr gearbeitet und eine Ausbildung zum Büro-Kaufmann gemacht, war danach am englischen Institut in Heidelberg und habe eine Sprachen-Ausbildung gemacht. Und da kam dann mein ehemaliger Chef auf mich zu und meinte, ob ich nicht Interesse hätte, mit in den Kosovo zu gehen – als Presse-Offizier."
Und jetzt war er eben in Afghanistan – die "Costa Compagnie" des Regisseurs Felix Meyer-Christian hat Menschen wie diesen gesucht und gefunden: Deutsche wie den Mann aus Heidelberg, die zum Einsatz nach Afghanistan zogen, außerdem (und eher wichtiger) Afghaninnen und Afghanen selbst, deren Alltags-Statements in etwas zu absichtsvoll künstlichen Umsetzungen überwiegend vom Costa-Ensemble gesprochen werden. Choreografiert ist "Conversion / Nach Afghanistan" (so heißt Meyer-Christians Projekt) obendrein, und die Bühne wird aufgeladen mit Zelt-Ballons und Luftschläuchen, vom Video ganz zu schweigen. Viel Kunst-Behauptung, wo die Thesen doch eher einfach klingen - die afghanische Aufforderung an die ISAF-Koalition etwa:
"Hört auf, Afghanen zu töten; hört auf, afghanische Häuser zu besetzen – denn wo ist sonst der Unterschied zu Terroristen? Ihr macht es offiziell, sie machen es inoffiziell."
Oder die Frage an uns alle, die auf den Kriegseinsatz notwendig folgt:
"Sie frage sich: Welchen Krieg wäre ein westliches Land samt Bewohnern wahrhaftig bereit zu führen? Für wen? Und für was?"

Vieles kommt dokumentarisch daher

Politik, wohin das Auge schaut und das Ohr hört, alles sehr ernsthaft und natürlich auch mit Blick auf das Jahrhundert-Thema, die neue Völkerwanderung. Daniel Wetzel von Rimini Protokoll und die Berliner andcompany&Co. erinnern daran, woher Europa (unter anderem) den Namen bekam: vom Fluss Evros, dem Grenz-Gewässer zwischen Griechenland und der Türkei, einer der ersten großen Fluchthelfer-Routen ...
Viel kommt dokumentarisch daher, auch das "Junge Theater" aus Basel. Mit dem Regisseur Sebastian Nübling entstand "Noise", eine Art kollektiver Aufschrei. Acht junge Leute rasen da wie die Furien durch die leere Central-Bühne vom Düsseldorfer Schauspielhaus und lärmen sich alle Verzweiflung über den Zustand der Welt von den geschundenen Junge-Leute-Seelen.
"Die Alten haben gegen alles Mögliche revoltiert – Effekt: gleich null. Wir müssen jetzt lernen, wie Widerstand heute zu leisten ist. Die aktuellen politischen Probleme sind nicht dazu geeignet, die globalen Probleme, beispielsweise die des Klimawandels, in den Griff zu bekommen."
Die (ziemlich altklugen) Jungen von heute aber, die den sinnlosen Widerstand der Alten jetzt umzuwandeln versuchen in neue Formen für neue Generationen, rennen sich leider völlig fest im Bemühen, sich selber zur "Bewegung" zu stilisieren, zumal zur "Bewegung", die "nicht aufzuhalten sein darf". Wenn das nämlich passiere, sei sie keine mehr. Da versteigt sich die hinreißend kraftvolle (und für alle, auch das Publikum, sehr anstrengende) Jugendwahn-Beschwörung dann doch ganz beträchtlich.
Geschenkt. Gerade das muss möglich sein gerade im "freien" Theater: der Risikolauf mit Hindernissen, der Sprung mit heißem Herz ins sehr kalte Wasser, Wahnsinn und Hybris jenseits von Norm und Form. Gut, dass das jetzt wieder jährlich zu sehen sein wird: tief im Westen beim "Impulse"-Festival.
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