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Die Welt ist besser geworden

Vernetzte Computer auf deren Bildschirmen einzelne Teile der Welt abgebildet sind. Illustration.
Grenzenlose weltweite Vernetzung: Nur Hinterwäldler klagten über die schädliche Wirkung des World Wide Web, so Konstantin Sakkas. © imago/Ikon Images
Ein Standpunkt von Konstantin Sakkas · 10.01.2019
Urbanisierung, Biotechnologie, Internet: Diese Errungenschaften machen das Leben heute besser als vor 100 Jahren, meint Konstantin Sakkas. Einer möglichen Zukunft der Menschen als Cyborg-Wesen sieht der Philosoph durchaus positiv entgegen.
Die politische Welt hat sich in den vergangenen hundert Jahren tatsächlich zum Guten gewandelt. Das hat vor allem drei Gründe: die Urbanisierung, die Biotechnologie, das Internet. Verschiedenen Studien zufolge wird in einigen Jahrzehnten die Mehrheit der Menschheit in Städten leben. Für viele ist das eine Schreckensvision.
Tatsächlich aber bedeutet Urbanisierung Entspannung, gerade weil sie ständige und immer neue Vermischung bedeutet. Politischer Radikalismus war und ist fast ausschließlich ein ländliches Phänomen. Über das Leben in Großstädten hingegen gilt, was Joseph Roth über das Paris der 20er-Jahre schrieb: "Die wirkliche Weltstadt ist objektiv. Sie hat Vorurteile, wie die andern, aber keine Zeit, sie anzuwenden."

Errungenschaften: Urbanisierung, Biotechnologie und Internet

Des Weiteren greifen Medizin und bald auch Epigenetik heute dermaßen tief in den menschlichen Biokosmos ein, dass hergebrachte Definitionen von Identität schon übermorgen nichts mehr wert sind. Nicht Identität an sich ist eine Fiktion, weil ja jedes Individuum einzigartig und unterscheidbar ist: Wohl aber die Annahme, dass identitäre Merkmale statisch und unveränderlich seien.
Wer in einer Zeit, in der das Erbgut des Menschen - wie im mutmaßlichen Fall der beiden chinesischen Babys - manipuliert werden kann, noch ernsthaft an Sprache, Hauptfarbe und Religion als irreversiblen Zuschreibungen festhält, ist nur noch naiv.

Größte Vorteile: Entgrenzung von Wissen und Kommunikation

Wer schließlich über die schädliche Wirkung des World Wide Web klagt, ist ein hoffnungsloser Hinterwäldler. Dank Wikipedia und Streamingdiensten kann sich jeder heute einen Wissensschatz und Bildung aneignen, die noch in den 90er-Jahren nur einer kleinen Schicht von Bildungsbürgern respektive Freaks zugänglich waren.
Und dank der sozialen Medien vernetzen sich heute weltweit Abermillionen von Menschen, die sonst vor lauter Schüchternheit vereinsamen würden. Natürlich gibt es Echokammern. Doch die gab es auch vorher, etwa in Vereinen und an Stammtischen. Virtuelle Ghettomauern aber lassen sich viel einfacher einreißen als reale.
Im Social Web kommen wir dem anderen nahe wie nie zuvor. Die Entgrenzung von Wissen und Kommunikation im Internetzeitalter ist – auch in politischer Hinsicht – die vielleicht größte Segnung unserer Epoche.

Irdische Position des Menschen wird riskanter

Natürlich ist die schöne, neue Welt nicht nur schön. Das Global Village hält andere Probleme bereit, allen voran Umweltverschmutzung und Klimawandel, die dieses Jahrhundert wohl bestimmen werden, aber auch spirituelle Fragen, die umso drängender werden, je mehr der Mensch sich von der Erde entfremdet und je riskanter seine irdische Position wird.
Die hergebrachten politischen Konflikte aber, in denen wir über Jahrtausende hinweg das Maß aller Dinge zu erblicken glaubten, werden demgegenüber immer mehr in den Hintergrund treten. Trumps Isolationismus, der Brexit, der Rechtspopulismus in Europa, auch Putins Griff nach der Weltmacht sind nur noch verzweifelte Rückzugsgefechte in einer Zeit, die das alte Politische längst hinter sich gelassen hat.

Die Schwelle zum Cyborg übertreten?

Der Mensch steht an der Schwelle zum Cyborg. Beim Übertreten dieser Schwelle opfert er seine hergebrachte Behäbigkeit und Beschränktheit. Er lässt gleichsam seine Pubertät hinter sich und wird erwachsen. Dieser Ausblick ist nicht unbedingt romantisch; aber er ist zweifellos besser als alle fade autoritäre Romantik, die "zurück zur Natur" sagt, aber in letzter Konsequenz doch nur in die Selbstverstümmelung der Menschheit führt.

Konstantin Sakkas, Jahrgang 1982, schloss 2009 das Studium in den Fächern Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität Berlin ab. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor für Presse und Rundfunk.


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