Die chaotische Zeit nach dem großem Umbruch
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Eine Montage aus Texten und Bildern, fast 600 Seiten dick: Das Buch "Das Jahr 1990 freilegen" versammelt eine ungeheure Fülle an Material aus dem Jahr der Wiedervereinigung. Die Gestaltung des Buchs spiegele das Jahr 1990 wieder, erklären die Herausgeber.
Es ist ein Buch, größer als ein Aktenordner, fast 600 Seiten stark: das Buch "Das Jahr 1990 freilegen". Jan Wenzel, einer der Herausgeber, sagt: "Das Buch ist eine große Montage aus Texten und Bildern, bei dem jede Doppelseite anders aussieht." Spannung entstehe durch jeweils unterschiedlich groß dargestellte Bilder und Texte. Die ungeheure Materialfülle des Buchs scheint nicht zu bewältigen. Das sei auch ein Bild des Jahres 1990, in dem sich die Geschichte besonders in Ostdeutschland so beschleunigt habe, dass man das eigentlich nicht bewältigen konnte, bestätigt Anne König, ebenfalls Herausgeberin des Buchs und - wie Jan Wenzel - Verlegerin beim Verlag Spector Books in Leipzig.
"Das Buch ist bestimmt nicht so gedacht, dass man es von Anfang bis Ende liest", betont König. "Aber wir wissen von Leuten, die es immer wieder in die Hand nehmen." Und das sei wohl auch der Ansatz, mit dem Leser sich diesem Buch nähern können: "Man schlägt es auf und liest sich irgendwo fest oder findet Bilder, findet in diese Texte hinein."
1990 als "komplettes Gegenteil" zu 1989
Das Jahr 1990 wirkt in der Erinnerung oft wie ein blinder Fleck. Dieses Jahr sei nicht einfach zu erinnern - im Unterschied etwa zum Jahr 1989, erklärt Wenzel. 1989 habe "eine klare Dramaturgie, einen Höhepunkt, eine große emotionale Entladung". Das Jahr 1990 sei das komplette Gegenteil: "Es wechselt ständig die Richtung, Dinge brechen immer wieder ab, es gibt enorme Beschleunigung. Noch im November 1989 denken Helmut Kohl und sein Berater Teltschik, dass es zehn Jahre dauert, bis die Wiedervereinigung geschafft ist." Dann sei es aber zehn Monate später schon soweit gewesen. Diese enorme Verdichtung der Zeit führe dazu, dass es weitaus schwieriger sei, dieses Jahr sowohl zu erinnern als auch "emotional klar zu haben".
Eines der Fotos auf dem Buchumschlag zeigt eine Straße in einer sommerlichen Stadt. Der Asphalt ist aufgerissen, die Szene sieht aus, als würden sich auf dieser geborstenen, nicht mehr begehbaren Straße Eisschollen bis zum Horizont erstrecken. Das sei die Eisenbahnstraße in Leipzig, erklärt Anne König, früher hieß sie Ernst-Thälmann-Straße. Damals sei das Gleisbett ausgetauscht worden. "Das ist auch als Sinnbild gedacht für dieses Jahr, in dem alles umbricht und nichts sicher ist."
Eigentumsfrage und Bildstrecke zu Ibrahim Böhme
Beispielswiese ziehe sich das Thema Eigentum durch das Buch. So gehe es beispielsweise an einer Stelle um die Fahrt einer kleinen Gruppe von Ökonomen in die Schweiz, die dort unabhängig mit japanischen Investoren verhandelten, so Wenzel. Das zeige, "dass andere Möglichkeiten auch bestanden hätten, als sich allein auf die Bundesrepublik und ihre Kapitalhilfe zu verlassen".
Eine der "beeindruckendsten Bilderstrecken", sagt Anne König, widme sich Ibrahim Böhme. Böhme schien als SPD-Politiker eine große Karriere bevorzustehen. Nachdem er jedoch als Stasi-Spitzel enttarnt worden war, trat er als Vorsitzender der SPD in der DDR zurück.
(abr)