Bildband

Der Flügelaltar als Comic-Strip

Die Festtagsseite des Flügelaltars in der Thomaskirche zu Leipzig, die am Heiligabend geöffnet wird: Der 500 Jahre alte Marienaltar eines unbekannten Meisters ist dreimal wandelbar und zeigt auf der Festtagsseite in reich verzierten Lindenholzfiguren die Biografie Jesus von der Geburt bis zur Auferstehung.
Die Festtagsseite des Flügelaltars in der Thomaskirche zu Leipzig. © picture alliance / dpa
Von Gerald Felber |
In der Zeit um 1500 erlebte der Flügelaltar einen Boom. In manchen Kirchen fanden sich Dutzende Retabeln. In gemalten oder geschnitzten Bildern erzählten sie Bibel- oder Heiligengeschichten. Ein neuer Bildband zeigt die Pracht dieser sakralen Kunstwerke.
Das Flügelretabel war das Leitmedium der Epoche um 1500, und man muss sich vorstellen: Wenn man eine Kirche betrat, dann konnte es passieren, dass zwischen 10, 20, in großen Kirchen 40 bis 50 Altäre vorgefunden werden konnten – und auf all diesen Altären standen Retabel mit Flügeln.
Und manchmal hatten diese Retabel ja nicht nur zwei Flügel, sondern vier, manchmal auch sechs. Insofern war das Spätmittelalter eine visuelle Zeit.
"Flügelretabel" wie eben der Autor Georg Habenicht, aber auch "Flügelaltar" oder schlicht, wenn auch nicht wirklich korrekt, nur "Altar": Es gibt verschiedene Bezeichnungen für jene Kunstwerke, die sich auf oder – deswegen die Bezeichnung "Retabel" – hinter dem Altartisch befinden. Ihnen ist dieser Band gewidmet, und wenn man ihn in die Hand nimmt und durchblättert – oder auch schon beim Anblick der goldstrahlenden Festtagsseite des Pulkauer Retabels auf dem Schutzumschlag – ist man zuerst überwältigt von der Fülle und überragenden Qualität des Bildmaterials. Allein dessen Auswahl und Zusammenstellung zu einer trotz der Quellenvielzahl mitreißenden ästhetischen Homogenität wäre eine zu würdigende Leistung, an der das Designkonzept Elke van den Bergs ebenso Anteil hat wie der hochwertige Druck. Da gibt man, um das gleich vorab zu sagen, seinen knappen Hunderter nicht umsonst aus der Hand.
Die zweite Überwältigung resultiert aus einigen Zahlen, die Georg Habenicht ziemlich am Beginn liefert. So existieren im ehemals deutsch- und niederländischsprachigen Raum, der sich mit einigen Überlappungszonen zwischen dem Baltikum und Brabant, Siebenbürgen und Südtirol ausspannte, und unter Einbeziehung jener Exportstücke, die bis nach Island, Italien und Teneriffa gingen, bis heute noch etwa 3500 Flügelretabel – geschnitzt, gemalt oder in Kombination beider Techniken.
Kein komplett erhaltener Flügelaltar in den Niederlanden
Ungefähr Dreiviertel davon entstammen nur einem halben Jahrhundert – dem zwischen 1480 und 1530, was grob gesagt der aktiven Schaffenszeit Albrecht Dürers entspricht. Das klingt beeindruckend, doch hier endet dann die Begeisterung, und es wird traurig: deswegen nämlich, weil dieser überlieferte Bestand trotzdem nur weniger als fünf Prozent dessen ausmacht, was einst vorhanden war. In den Niederlanden etwa, wo die nachreformatorischen Bilderstürmer besonders radikal wüteten, gibt es keinen einzigen komplett erhaltenen Flügelaltar mehr, im heutigen Belgien gerade noch 34. Ein wenig besser sieht es, wie der Autor selbst berichtet, zum Beispiel am Niederrhein aus, in Xanten oder Kalkar:
"Da gibt es also Kirchen, die sind voll mit Altarretabeln. Das ist eine Ausstellung wie in einem Museum: es sind Museumskirchen. Das Tolle ist eigentlich: die Reformation hat vielfach die Situation unangetastet gelassen – sie hat es einfach konserviert."
Was nichts daran ändert, dass die Retabel seither viel eher Schaustücke als Gegenstand der direkten Kommunikation geworden sind: Man betet nicht mehr vor den aufgereihten Heiligen, und selbst dort, wo die alten Altäre noch ins liturgische Geschehen einbezogen werden, haben sie mittlerweile eine eher illustrative Funktion. Die freilich kann auch uns, die wir inzwischen in ganz anderen Glaubens- oder Nichtglaubenszusammenhängen leben, wenigstens noch eine Andeutung dessen vermitteln, was sich damals im Koordinatengeflecht von Künstlern, Auftraggebern, Gläubigen und vielen anderen, deren Leben in irgendeiner Weise mit den Altarretabeln verbunden war, vollzog. Der Aufmerksamkeit weckende Titel des Buches, "Die Heilsmaschine", meint eben das: dass die mittelalterlichen Flügelaltäre nicht in erster Linie Kunstgegenstände, sondern Medium lebendiger, individueller wie gesellschaftlicher Kommunikation waren – Bilderzählungen, die sich beim Auf- oder Zuklappen der Flügel wie ein Comic oder ein Film entfalteten. Georg Habenicht, der Autor:
"In unserer Zeit ist das künstlerische Leitmedium zweifelsohne der Film. Nun ist es so, dass das Flügelretabel genau dasselbe möchte wie der Film, nämlich kraft der Eindrücklichkeit der Bilder den Betrachter in den Bann schlagen. Und es gibt noch eine weitere Parallele: Der Film ist gattungsübergreifend. Sie brauchen Regisseur, verschiedene Darsteller; Sie brauchen Skript, Sie brauchen einen guten Kameramann – und dann kriegen Sie einen Film. Das Flügelretabel ist auch gattungsübergreifend: Es braucht einen Schreiner, es braucht einen Maler, es braucht einen Schnitzer – es kommt auf das Zusammenspiel der Gewerke an."
Der Autor ist Kunsthistoriker und Filmkenner
Solch originelle Querverbindungen über die Jahrhunderte hinweg haben etwas damit zu tun, dass Georg Habenicht in seiner professionellen Biographie tatsächlich beiden Medien verbunden war: Als ausgebildeter Kunsthistoriker hat er einige Jahre auch für einen Filmverleih gearbeitet. So gehen ihm die Parallelen leicht von der Hand. Die Scharen der Heiligen entsprechen als Hauptdarsteller den heutigen Schauspielern, die Beziehungen zwischen Auftraggebern und Künstlern denen zwischen Produzenten und Regisseuren; Kritiker, Vermarktungsfachleute, wissenschaftliche Exegeten und andere korrespondierende Sparten gab und gibt es ebenfalls hier wie dort – was sich bis in die gleichsam szenisch inszenierte Dramaturgie des Bandes, wo solche Berufsgruppen nacheinander auftreten, und sogar bis in den Bildteil umsetzt, wo dann eben auch einmal der begnadete Selbstdarsteller Karl Lagerfeld in Parallele zu einem Dürer-Selbstbildnis erscheinen darf. Unterhaltung und Läuterung sind immer beide präsent, wenn auch in unterschiedlichen Gewichtsanteilen.
"Und der letzte Punkt ist die Eroberung der Wirklichkeit. Der Film fing an mit Bildern in Schwarz-Weiß. Dann kam irgendwann der Ton hinzu, und heute sind wir bei 5.1. und Dolby Surround – und genau dieselbe Entwicklung gab es auch an den Altarretabeln."
Über Details in diesem eher soziologischen als ästhetischen Ansatz mag man streiten können – aber es ist jedenfalls ein packend lebendiger Zugang, den Habenicht wählt, glänzend orchestriert und vermittelt durch den Rausch der Bilder, die in manchen Fällen sogar die Ansicht eines womöglich schlecht ausgeleuchteten Originals vor Ort übertreffen könnten; und selbst für einen Liebhaber spätmittelalterlicher Kunst dürfte es dabei Neues zu entdecken geben, weil eben nicht nur die großen Riemenschneider- oder Veit-Stoß-Altäre erscheinen, sondern in gleicher Qualität und Gewichtigkeit auch Retabel an abgelegenen Orten wie dem schon erwähnten Pulkau nahe der österreichisch-böhmischen Grenze.
Als Augenlust ist das Buch großartig
Wobei dieses große Plus des Buches ein kleineres Minus im Gefolge hat: weil nämlich gerade ob dieser Fülle, bei der nicht alle Abbildungen gleich ausführlich kommentiert werden und textliche Erwähnungen oft, aber nicht immer parallel zum zugehörigen Foto gehen, ein paar Registerseiten mit einer Text-Abbildungs-Konkordanz und vielleicht sogar noch eine Überblickskarte dazu die Nutzungsqualität des Bandes enorm aufgewertet hätten. Auch einige Unschärfen in den Bildlegenden und die manchmal wortgleiche Wiederholung von Textzitaten im Anmerkungsteil erschweren die praktische Nutzung.
Kurz und gut: als pure Augenlust ist das Buch großartig, als Reiseverlockung, um sich vielleicht selbst auf die Spuren der alten Flügelaltäre zu machen, weniger: da muss man erst nachrecherchieren. Georg Habenicht immerhin, der seiner Leidenschaft für diese ebenso eigen- wie großartigen Kunstwerke fünf Jahre seines Lebens gewidmet hat, hat sie fast alle tatsächlich selbst gesehen. Das merkt man und darf den Autor darum fast ein wenig beneiden – denn unumschränkt gilt, was er über seine Objekte und ihre Zeit sagt:
"Es dürfte kaum eine weitere Ära geben in der deutschen Kunst, wo sich so viele große Begabungen in einem so engen Zeitfenster drängen."

Georg Habenicht: Die Heilsmaschine – Der Flügelaltar und sein Personal
Michael Imhof Verlag, Dezember 2014
496 Seiten, 99 Euro