Bildband "In schwindendem Licht"

Auf den Spuren verschwindender jüdischer Kultur

Tscherniwzi (Czernowitz), Bukowina, Ukraine, 2014 | Leichenhalle auf dem jüdischen Friedhof
Leichenhalle auf dem jüdischen Friedhof im ukrainischen Czernowitz. © Christian Herrmann
Von Stefanie Oswalt |
In Osteuropa gibt es viele jüdische Orte ohne Hinweistafeln – Gebäude von denen nur Kundige wissen, dass sie zum Beispiel mal Synagogen waren. Der Fotograf Christian Herrmann hat solche Spuren jüdischen Lebens in einem Bildband dokumentiert.
Ein Foto: Ein grünes Tor aus Metalllamellen, schäbige Betonmauern rechts und links. Hinter einer grünen Metallbaracke mit gelben Fensterrahmen erhebt sich ein graues Gebäude mit Bogenfenstern, schwarze Vögel sitzen auf dem Dach. Heute ist dies eine Wodka-Destillerie – einst war es die Große Synagoge von Sbarasch in Galizien, in der Ukraine.
Jüdischer Friedhof im polnischen Karzcew.
Jüdischer Friedhof im polnischen Karzcew.© Christian Herrmann
Ein anderes Foto: Eine weiße Landschaft unter blauem Himmel, Baumstümpfe säumen einen verschneiten Graben, in der Tiefe des Bildes ein heruntergekommenes dreistöckiges Wohnhaus mit Außentreppen. Darunter die Zeile: "Misotsch, Wolhynien, Ukraine. Zerstörtes ehemaliges Ortszentrum." Nichts deutet darauf hin, dass hier einst Juden lebten, zu Nazi-Zeiten ein Ghetto existierte, dessen Einwohner im Oktober 1942 von Tötungskommandos er Einsatzgruppen C ermordet wurden. Beide Fotos stammen aus dem neuen Bildband des Kölner Fotografen und Bloggers Christian Herrmann.
"Ich bin relativ zufällig überhaupt nur drüber gestolpert. Ich war in den 90ern mal zu einer Sommerakademie in der Nähe von Krakau eingeladen. Die Stadt hat mir sensationell gut gefallen, da habe ich mich sofort in die Stadt verliebt. Und so meine erste Frage war: Warum weiß ich nichts über diese Stadt und die zweite war: Jetzt können wir alle reisen, wir brauchen keine Visa, es hält uns niemand an einer Grenze auf und niemand machts. Und da hab ich beschlossen, das möchte ich erst mal für mich ändern."

Sozialistische Plattenbauten am Horizont eines Gräberfeldes

In Kazimierz, dem ehemals jüdischen Stadtteil von Krakau, sagt Herrmann, habe er zum ersten Mal den großen Unterschied zwischen West- und Osteuropa empfunden.
"Hier hat's eine ganz andere Präsenz von Judentum gegeben. Also Deutschland hat unter ein Prozent jüdischer Bevölkerung vor '33 gehabt und Polen elf oder zwölf Prozent und in den Städten um die 30 Prozent. Das ist eine völlig andere Präsenz und wenn diese Menschen weg sind, macht das auch mit den Städten nochmal was anderes, das verändert sie viel stärker, als das in Mitteleuropa der Fall ist."
Ehemalige Synagoge im ukrainischen Nowoselyzja, vormals als Club einer kommunistischen Jugendorganisation zweckentfremdet. Ihre Wände sind bunt bemalt.
Die ehemalige Synagoge im ukrainischen Nowoselyzja wurde fürher als Club einer kommunistischen Jugendorganisation zweckentfremdet.© Christian Herrmann
Beispiel Kalusch, Galizien: Hier hat Herrmann sozialistische Plattenbauten am Horizont eines Gräberfeldes fotografiert. Sie beweisen, wie viele jüdische Menschen hier einst gelebt haben. Zugleich dokumentieren sie das Desinteresse der Nachgeborenen: Die Grabsteine mit verwitterten jüdischen Schriftzeichen stehen inmitten einer verwilderten Wiese.
"Bei den Reisen in Osteuropa, was mich immer sehr bewegt, ist, dass die Spuren so unmittelbar sichtbar sind: Da ist eben die Ruine der Synagoge, da ist die Ruine des chassidischen Hofs, da sind die Spuren der Mesusot an den Türpfosten. Das ist alles physisch da und da hat sich niemand physisch dran zu schaffen gemacht, Zaun drum gezogen und es zu einem Museum gemacht."

Wie Wunden in Türrahmen

Herrmann hat an vielen Häusern Umrisse von "Mesusot" fotografiert, Kästchen mit einer Schriftrolle, die sich Juden an den Türpfosten nageln. Doch Hermann fand nur noch die Silhouetten vor. Wie Wunden sehen die Lackreste und Kerben im Türrahmen aus – niemand hat sich die Mühe gemacht, diese Spuren zu übertünchen. Kaum einer weiß um ihre Bedeutung. In solchen Anblicken vermittele sich die verheerende Kraft der Diktaturen des 20. Jahrhunderts direkter als hierzulande, sagt Herrmann:
"Was ich schwierig an unserer Erinnerungskultur finde, ist, dass sie so eine Neigung hat, die Dinge gewissermaßen einzuzäunen. Wir haben diese Gedenkstätten. Sie geben uns eine gewisse Sicherheit, finde ich, weil sie uns auch die Botschaft vermitteln: Da ist das Böse. Und da haben wir es auch in sicherem Abstand zu uns. Da können wir hinfahren. Wir können der Toten gedenken, wir können etwas darüber lernen, was dort geschehen ist, aber wir müssen es nicht zwingend in unseren Alltag lassen."
Die ehemalige große Synagoge im ukrainischen Horodenka wird heute als Sporthalle genutzt.
Die ehemalige große Synagoge im ukrainischen Horodenka wird heute als Sporthalle genutzt.© Christian Herrmann
Das habe sicher auch Vorteile. In Deutschland rette man die Spuren jüdischen Lebens vor dem Verfall. Man konserviert sie, stellt sie in Museen aus, macht sie verstehbar. Und sie dienen auch als Mahnmale gegen Antisemitismus und Rassismus. Andere Aufnahmen zeigen zweckentfremdete Synagogen: Etwa in Horodenka und Sambir in Galizien. Dort dienen die großen Synagogen von einst heute als Sporthalle. Von den Wänden grinsen muskelprotzende, halbnackte Kraftpakete. Die heutige Bevölkerung, sagt Herrmann, wisse kaum etwas über die historischen Orte:
"Es sind ja viele Orte, die einen völligen Bevölkerungsaustausch erlebt haben. Die Juden sind umgebracht worden, die Polen sind repatriiert worden, wie die Sowjets das nannten, die Deutschen sind 1940 schon 'heim ins Reich geholt worden', ein Teil der Ukrainer ist nach Sibirien deportiert worden. Also da hat man wirklich alle Katastrophen beisammen und an vielen Orten eben entsprechend auch Schwierigkeiten mit dem historischen Gedächtnis."

Oft entdecken Kinder von Überlebenden seinen Foto-Blog

Mit seinen Fotografien versucht Herrmann, zum Erhalt oder zur Wiederbelebung des historischen Gedächtnisses beizutragen. Seit 2013 dokumentiert er seine Reisen im Internet – sein Webarchiv umfasst inzwischen mehr als 2.000 Fotografien jüdischer Spuren an mehr als 200 Orten. Zunehmend stößt er damit auf Resonanz: Über seinen englischsprachigen Blog vanishedworld.blog kommuniziert er mit Menschen auf der ganzen Welt, die sich für die Region interessieren. Oft finden sich darunter Kinder und Enkel Überlebender, die häufig gar nicht mehr wissen, dass die Orte ihrer Vorfahren doch noch existieren.
"Oft ist der Narrativ ja, dass die Großeltern erzählt haben: ‚Und als wir weg waren, ist der Ort zerstört worden.’ Dann denken die Enkel: Da ist nix mehr. Aber es ist eben sehr wohl etwas da, wird heute von teilweise anderen Menschen bevölkert und ist im Regelfall auch gewachsen als Ort. Aber vieles von der historischen Substanz ist eben weiterhin da und kann besucht werden."
Jüdische Spendenbüchse in der Jakob-Glanzer-Schule im ukrainischen Lwiw.
Jüdische Spendenbüchse in der Jakob-Glanzer-Schule im ukrainischen Lwiw.© Christian Herrmann
Auch wenn Herrmann die Spuren jüdischen Lebens zunehmend im "schwindenden Licht" sieht – punktuell gebe es heute vor Ort zumeist junge Menschen, die sich um ihren Erhalt bemühen:
"Also entweder, indem sie jüdisches Gemeindeleben aufrecht erhalten, oder indem sie versuchen, Synagogen zu erhalten, Friedhöfe aufzuräumen, Grabsteine, die irgendwo verbaut sind, zu retten. Diese Menschen gibt es ja, Juden wie Nichtjuden, in diesem Sinne endet das Buch auch ein bisschen mit Hoffnung. Es ist nicht alles vorbei."

Christian Herrmann: In schwindendem Licht/ In Fading Light
Lukas-Verlag, Berlin 2018
180 Seiten, 30 Euro

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