Jury Dojc und Katya Krausova, Last Folio: A photographic memory / Ein fotografisches Gedächtnis
Übersetzt von Jane Michael und Annegret Hunke-Wormser
Prestel Verlag, 2015
128 Seiten, 39,95 Euro
Auf Spurensuche in der Slowakei
Vor mehr als zehn Jahren besuchte der in Kanada lebende Fotograf Yuri Dojc erstmals seinen Heimatort im Osten der Slowakei. Er suchte nach Spuren seiner jüdischen Familie. Sein Buch "Last Folio" ist wie ein fotografisches Gedächtnis der eigenen Wurzeln.
Eigentlich hatten der Fotograf und die Filmemacherin im März 2006 keine Zeit für diese Besichtigung: Jury Dojc und Katya Krausova waren bereits den ganzen Tag in der slowakischen Stadt Bardejov unterwegs. Auf den Spuren ehemaligen jüdischen Lebens hatten sie in der verfallenen Synagoge gedreht und das letzte noch in der Stadt lebende alte jüdische Paar porträtiert. Genug für einen Tag. Doch der hartnäckige Mann, der ihre Arbeit beobachtete hatte, konnte sie schließlich doch zu einem kurzen Blick in das Gebäude überreden.
Klassenzimmer blieb über 60 Jahre unberührt
Was die beiden sahen, mutet unglaublich an: Im Inneren des Hauses stand die Zeit still. Seit über 60 Jahren, seit die jüdische Bevölkerung Bardejovs 1942 deportiert worden war, waren die Räume der ehemaligen jüdischen Schule sich selbst überlassen geblieben. Schulbücher, Aufsatzhefte und Taschen, Regale, Pulte und Schränke standen und lagen – unter dicken Staubschichten und abgeblättertem Putz – wie ehedem. Aus dem kurzen Blick wurde für Dojc und Krausova ein Lebensprojekt. Es mündete in einen berührenden Film und eine durch die Welt tourende Foto-Ausstellung. Gemeinsam mit Texten der iranisch-amerikanischen Schriftstellerin Azar Nafisi und des deutschen Autors Steven Uhly erscheint eine Auswahl Dojcs herausragender Bilder nun als Buch.
Eine Doppelseite des ehemaligen Klassenzimmers eröffnet "Last Folio". Grauer Dielenboden, braunes Mobiliar, halb verrottete Regale, vergilbte Bücher. Ihnen sind die etwa 80 folgenden Seiten gewidmet, die mit gestochen scharfen und fast zärtlich ausgeleuchteten Großaufnahmen einzelne Werk wie Individuen porträtieren. Dojc zeigt brüchige Buchrücken, zerfressene Einbände, schier zu Staub verfallene Buchseiten, zerfledderte, geknickte und verklumpte Folianten. Manche sind aufgeschlagen, manche lassen Textzeilen erkennen, manche geben gar den gestempelten Namen ihres ehemaligen Besitzers preis. Um sie herum: zerstörte Thorarollen, lederne Gebetsriemen, wie versteinert wirkende Taschen.
Es sind betörend schöne und eindringliche Bilder von magischer Anziehungskraft. Dojc zeigt jedes einzelne Buchfragment als sei es ein Überlebender. Und tatsächlich dokumentieren die Bände nicht nur die Abwesenheit ihrer ehemaligen Leser, sondern zeugen auch von deren Leben, Lernen und Leiden.
"Letztes prachtvolles Manifest der Auflehnung"
Fakten und den historischen Kontext zu den Bildern liefern eine Chronologie jüdischen Lebens in der Slowakai am Ende des Bildbandes und ein Essay von Katya Krausovas. Die Filmemacherin, die wie Dojc jüdische Wurzeln hat und wie dieser 1968 nach der Niederschlagung des Prager Frühlings die ehemalige Tschechoslowakei verließ, beschreibt sowohl das Leben der jüdischen Bevölkerung als auch deren Deportation 1942.
"Last Folio" ist ihr fotografisches Gedächtnis. Azar Nafisi feiert die Bilder in ihrem begleitenden Text als "letztes prachtvolles Manifest der Auflehnung, sich sowohl dem Tod als auch dem Vergessen widersetzend". Treffender lässt es sich nicht formulieren.