Eine Schule des Sehens
Humanist, Rebell, "Kunstfeind Nr.1" der Nazis: Der Maler Oskar Kokoschka lehnte sich auf – auch gegen den vorherrschenden Geschmack nach dem Krieg. 1953 gründete er die erste Kunst-Sommerakademie. Bis heute eine Veranstaltung, in der ein besonderer Geist weht.
1953. In der Bundesrepublik und in Österreich waschen die Menschen angesichts der jüngsten faschistischen Vergangenheit ihre Hände in Unschuld. Anstatt sich mit Kriegsursachen und eigener Verantwortung zu beschäftigen, stürzen sie sich in die Arbeit.
Auch die bildende Kunst verdrängt die wichtigen Fragen der Zeit: Politisch gewollt und finanziell gefördert wird Abstraktes. Figurative Malerei gilt als gestrig. Maler, die wie Oskar Kokoschka daran festhalten, werden vom herrschenden Kunstbetrieb ignoriert.
Kokoschka: "Für mich ist der Mensch das Maß aller Dinge. Deshalb bin ich immer als Reaktionär verschrien worden, oder ich werde verschrien heute, weil ich den Menschen in den Mittelpunkt der Kunst stelle. Denn nur so begreife ich Kunst: als Dokument des menschlichen Wirkens."
Gegenmodell zu den traditionellen Kunstakademien
Um diesen Anspruch gegen die Vormacht des Abstrakten wach zu halten, und als Gegenmodell zu den traditionellen Kunstakademien, gründet Kokoschka die Sommerakademie: 1953 treffen sich auf der Festung Hohensalzburg erstmals Menschen jeden Alters, mit und ohne künstlerische Ausbildung, um gemeinsam zu lesen, philosophische Ideen zu diskutieren – und zu malen.
Kokoschka: "Die Schule des Sehens. Mit der Aufgabe, den jungen Menschen die Augen zu öffnen, sodass sie einsehen lernen, was sie selber treiben."
"Grauenvolle Bildnisse"
Oskar Kokoschka wird 1886 in Österreich geboren. Er stirbt 1980 in der Schweiz. Einige frühe, um 1911 entstandene Porträts der Wiener High Society, verursachen einen Skandal. Kokoschka idealisiert nicht, sondern legt das Seelenleben der Damen und Herren bloß: Er zeigt sie mit grobem Pinselstrich in erstarrter Haltung als Verdammte einer überlebten Zeit. Das "Deutsche Volksblatt" reagiert empört:
"Er macht (...) grauenvolle Bildnisse, die Entstellungen zerstörender Krankheiten oder eines zersetzenden Verwesungsprozesses zu tragen scheinen."
1914 wird Kokoschka Soldat, nach dem Krieg Professor in Dresden, und von 1924 an reist er durch Europa, Nordafrika und Kleinasien. Als er Anfang der 30er-Jahre nach Wien zurückkehrt, wird seine expressive Malerei gefeiert. Doch schon wenig später erklären die Faschisten ihn als "entartet". Sie beschlagnahmen über 400 seiner Bilder.
Die Nazis beschlagnahmen 400 seiner Bilder
"Und ich musste fliehen. Erst aus Wien. Dann aus Prag mit meiner jungen Frau. Und ohne Visum und ohne Geld kamen wir nach England."
In London engagiert er sich im "Freien Deutschen Kulturbund", schreibt antifaschistische Essays und malt Porträts von Verfolgten des Faschismus, etwa den Cellisten Pablo Casals.
"Ein politisches Bild ist für mich nicht im Sinne eines Pamphlets zu verstehen. Aber ich will zeigen, was ich sehe. Ich will ein Zeugnis ablegen."
Dieses humanistische Anliegen prägt auch das Programm der Sommerakademie, die Kokoschka bis 1964 leitet, und mit der er dem Siegeszug abstrakter Kunst Paroli bietet.
Eine kleine geistige Bewegung
"Ich sag ja immer in meiner Schule: Es ist eine geistige Bewegung. Sie mag klein sein und unscheinbar. Es sind ja nur einige hundert Schüler, die sich einmal im Jahr für einen Monat bei mir ansammeln. Aber diese kleine Bewegung ist genau so wichtig, wie kleine Pflanzen. (...) Eine kleine Pflanze kann einen Felsen sprengen. Eine kleine geistige Bewegung kann vielleicht Wunder wirken."
Heute, über 60 Jahre nach ihrer Gründung, hat die Sommerakademie Salzburg viele Nachfolger in ganz Europa gefunden. Doch zählt sie noch immer zu den wichtigsten ihrer Art: Längst sind zur Malerei andere Genres hinzugekommen. Die Spannbreite reicht von Medienkunst bis zur Schmuckherstellung. Und mittlerweile versammeln sich jährlich etwa 300 Kunstbegeisterte aus 40 Ländern, die in über 20 Kursen mit international bedeutenden Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeiten. Mario Merz, Nan Goldin, Jörg Immendorf, Alfred Hrdlicka, Werner Tübke, Alfredo Jaar oder Xenia Hausner lehrten hier.
Drei Wochen lang "unglaublich produktiv"
Unter dem Motto "Wie kommt die Welt ins Bild?" – eine Frage, die Kokoschka sicher gefallen hätte – sind diesen Sommer Norbert Bisky und Tobias Zielony dabei. Und eine Rekordhalterin unter den Lehrenden gibt es auch: Die Fotografin Katharina Sieverding ist von der Atmosphäre in Salzburg so begeistert, dass sie bereits sieben Mal teilnahm.
Sieverding: "Die Stimmung ist hoch motiviert, sehr diszipliniert. Um 8 Uhr morgens kann man hier anfangen, bis abends 20 Uhr. Die ist eigentlich durchgängig so geblieben. Das ist vergleichbar mit einem universitären Betrieb. Es ist unglaublich produktiv in diesen drei Wochen."