Bilder gesellschaftlicher Stimmungen

Von Anette Schneider |
Von Diane Arbus sind vor allem ihre Bilder von Dragqueens, kleinwüchsigen Menschen und geistig Verwirrten bekannt. Eine Retrospektive im Martin-Gropius-Bau in Berlin zeigt jetzt unter dem Titel "Revelations" 200 Arbeiten, die aus dem Metropolitan Museum und dem Arbus-Archiv stammen.
Am Eingang zum ersten Saal verkündet ein kurzer Wandtext, die Ausstellung sei weder thematisch, chronologisch, noch wissenschaftlich geordnet, auch gäbe es keinerlei Erklärungen. Dieses ungewöhnliche Konzept stammt von Jeff Rosenheim. Er ist Kurator des Metropolitan Museums New York, dass das Diane-Arbus-Archiv betreut, und viele ihrer Arbeiten besitzt:

"Im ersten Saal hängt eine Auswahl von Bildern, die etwas Elementares für die Arbeit von Diane Arbus besitzen, es aber nicht proklamieren. Ich hoffe, die Besucher erkennen das, denn danach geht es chronologisch weiter. Und es gibt niemanden, der einem erzählt, wie man die Bilder betrachten soll.

Normalerweise bietet jede Ausstellung eine Unmenge von Informationen und kritischen Erläuterungen, von denen die Macher meinen, sie würden einem beim Sehen helfen. Wir gehen davon aus, dass die Künstlerin uns alles gegeben hat, was wir dafür brauchen."

Eine opulente, ihren Reichtum ausstellende Lady auf der 5th Avenue, spielende Kinder, ein junges Liebespaar, Transvestiten, Anhänger der Freikörperkultur - mit diesem Gesellschaftspanorama eröffnet die Ausstellung.

Diane Arbus, 1923 in New York geboren, hatte früh geheiratet, zwei Kinder bekommen, und arbeitete mit ihrem Mann als Modefotografin. Doch die Welt des Glamours ödete sie an, sie interessierte sich für das wahre Leben. 1956 trennte sie sich von Mann und Job, ging mit der Kamera auf die Straße, und fotografierte Menschen, wie es vor ihr noch niemand getan hatte: Sie beobachtete sie in Vereinen, Bars und Umkleideräumen, hielt gesellschaftliche Verhaltensweisen und Riten fest.

Sie entdeckte die maskenhaft-leeren Gesichter der Reichen, zeigte gesellschaftliche Ausbruchsversuche - eben FKK, junge Lesben in Männerkleidung, eine Dragqueen an der Schminkkommode:

"Wie passt das Individuum in die Gesellschaft? Das ist die Kernfrage von Arbus' Fotografie: Sie blickt auf die Menschen, fragt: 'Wie überleben sie in dieser Welt?'. 'Wie fügen sie sich ein in die Gesellschaft - oder stehen außerhalb von ihr?'. Sie fragt danach, wie wir die werden, die wir gern sein möchten, wie wir unsere Identität verändern, um die zu werden, die wir nicht sind, aber sein möchten."

Oft verdichtet sie Porträts zu Sinnbildern gesellschaftlicher Stimmungen: Ein junger Mann mit Strohhut blickt direkt in die Kamera. In einer Hand hält er eine US-Fahne, an der Jacke trägt er einen Sticker mit "Bomb Hanoi". Er wartet auf den Beginn einer Pro-Kriegs-Demonstration. Das Bild entstand 1967.

Oder ihre jungen Liebespaare: Mit leeren, verlorenen Blicken hocken sie beieinander, weil man das ebenso macht - doch ihre Sehnsucht nach Nähe und Halt bleibt unerfüllt.

Stets nimmt Diane Arbus ihre Protagonisten ernst. So lenkt sie den Blick über die Personen hinaus auf die Verhältnisse, die sie prägen: Der Junge im Central-Park, der mit aggressiv-verzerrten Gesichtszügen und einer Plastikhandgranate in den Händen direkt in die Kamera guckt - er spielt genau das explosive Spiel, das ihm die gesellschaftliche Wirklichkeit vorgibt.

Mit diesem Blick auf Menschen - der auch inspiriert ist von der europäischen Porträtfotografie der 20er-Jahre - betrat Arbus Neuland:

"Die Leute waren von Anfang fasziniert von ihrer Arbeit. In den 60er-Jahren erhielt sie Stipendien von der Guggenheim-Foundation. Sie hatte einige große Ausstellungen, ... ihre Fotografien und ihre Bücher wurden sofort zu einem Teil der Bildsprache des Mediums Fotografie."

Die 200 Arbeiten im Gropius-Bau verdeutlichen nicht nur, dass Nan Goldin, Wolfgang Tillmans, Martin Parr und viele andere ohne Arbus kaum denkbar wären. Sie zeigen auch: Arbus war keineswegs die Fotografin gesellschaftlicher Außenseiter oder "Ausgestoßener", als die sie viele Ausstellungen hierzulande gern vorstellten.

In den 15 Jahren, die Arbus als Fotografin arbeitete, schuf sie ein ungeheuer dichtes Panorama der US-amerikanischen Gesellschaft - und dazugehören eben auch Transen, Zirkusleute oder geistig Verwirrte.

Im letzten Raum der Ausstellung erfährt man dann doch noch anhand biografischer Erläuterungen, Schriften und Zitate, wie Arbus arbeitete: Wie systematisch sie Themen entwickelte, wie sie sich wieder und wieder einließ auf Menschen, um vom Leben zu erzählen.

Jeff Rosenheim: "Sie arbeitete anthropologisch. Es ist wie August Sander. Es ist ein typologisches Werk. Aber nicht, um die Bilder einfach nur zusammenführen. Sie wollte die Welt umarmen!"

Als freie Fotografin, die zwei Kinder zu versorgen hatte, war existenzielle Sicherheit für Arbus ein Fremdwort. So berichtet ein kurzer Wandtext am Schluss der Ausstellung, dass sie Anfang 1971 Privatunterricht geben musste, um Geld für eine dringend benötigte neue Kamera zusammen zu bekommen. Mehrere Anträge auf Stipendien waren abgelehnt worden.

Am 29. Juli 1971 beging die 48-jährige Künstlerin Selbstmord. Es heißt, sie hatte Depressionen.
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