Bilder und Geschichten aus der Nachkriegszeit

Im Jahr 2008 gründete der große Stuttgarter Klett-Konzern ein kleines, feines Kinderbuch-Label und siedelte es in der Literaturstadt Leipzig an. Dort entstehen seitdem Bücher über die man nachdenken und reden kann, die Wissensdurst befriedigen und Spaß machen. "Wir Kinder von früher" ist so ein Buch.
"Wir Kinder von früher" - das sind deutsche Kinder in der Nachkriegszeit. Drei von ihnen sieht man stellvertretend auf dem Titelbild: zwei Jungen und ein Mädchen auf einem typischen 50er-Jahre Schwarz-Weiß-Foto. Mit den Armen auf einen Holzbalken gelehnt blicken sie verschmitzt in die Kamera und machen Lust auf dieses Buch, das in keine Schublade passt, weil es aus einfachsten Mitteln etwas ganz Neues macht!

Es kombiniert Bilder aus der Nachkriegszeit, die der Fotograf Karl Heinz Mai in Leipzig gemacht hat, mit neuen Geschichten des Autors Herbert Günther. Letzterer ist ein Nachkriegskind, kannte Mai nicht und hat sich, als er dessen Fotos entdeckte, dazu passende eigene Episoden ausgedacht. So kam diese Mischung aus Bildband, Fotoalbum und Erzählung zustande.

Wie in einem privaten Fotoalbum sind die Bilder geordnet, vom ersten Schnappschuss im Kinderwagen bis zum letzten beim Lernen für die Aufnahmeprüfung am Gymnasium. Dazwischen an die 50 Fotos, jeweils auf der rechten Seite, daneben links die Geschichten dazu. Sie zeigen Kinderalltag "von früher" in allen Lebenslagen: mit Eltern und Großeltern, auf dem Bauernhof und im Kindergarten, mit Freunden, auf der Straße und zwischen Kriegstrümmern. "Von früher" ist natürlich auch die Kleidung: Schnürstiefel, gesmokte Kleidchen, Lederhosen, brave Hemden. Oder das Spielzeug und die Dinge des alltäglichen Lebens wie Schulranzen, Zinkwannen und Haarschleifen. Wer Lust hat, kann immer wieder Neues entdecken, ins Schwärmen geraten und Erinnerungen wecken.

Herbert Günthers Geschichten zu diesen Fotos sind in der Ich-Form erzählt, aus der Sicht eines Jungen von damals. Lauter kleine Episoden einer Kindheit, zu jedem Foto eine. Dabei geht es weniger um Spannung oder individuelle Entwicklung als um den Zeitgeist und die Atmosphäre der Nachkriegszeit. Der Gefahr, nostalgisch zu werden, weicht das Buch jedoch gekonnt aus. Viele Fotos und Geschichten sind zwar charmant und unterhaltend, viele aber auch ernst oder traurig. Kriegskrüppel und Spätheimkehrer, Trümmer und Kartoffelklau, Hunger und Hamsterfahrten verhindern sentimentale Anwandlungen.

"Wir Kinder von früher" ist ein typisches Familienbuch. Ein Fotoband, mit dessen Hilfe Großeltern von früher berichten können, ein Buch zum Vorlesen und Zeigen, zum Blättern, Erzählen, Erinnern, Nachdenken und vor allem: zum Miteinander reden. Wichtig ist es auch darum, weil es eben viel mehr zeigt und erzählt als jedes private Fotoalbum, ein Stück Zeitgeschichte nämlich. Unmerklich werden Oma oder Opa dann anfangen, von ihrer eigenen Kindheit zu erzählen. Und das ist dann vielleicht sogar das Schönste - für alle!

Besprochen von Sylvia Schwab

Karl Heinz Mai/Herbert Günther: Wir Kinder von früher. Bilder und Geschichten aus einer anderen Zeit
Klett Kinderbuch, Leipzig 2011
128 Seiten, 19,90 Euro