Bilder vom Denken
Michael Hagners Buch lässt sich als Beitrag zur Selbstaufklärung der Wissenschaften lesen, der auch für ein breites Publikum geeignet ist. So untersucht er zum Beispiel das gewachsene Interesse an der Hirnforschung im Zusammenhang mit immer besseren Bild gebenden Verfahren. Sie erwecken den Eindruck, als würden wir tatsächlich dem Geist bei der Arbeit zuschauen.
Die Erforschung des Gehirns hat im letzten Jahrzehnt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen, wie keine andere Wissenschaftsdisziplin. Unsere Kenntnis darüber, wie sich bestimmte Prozesse im Gehirn vollziehen, hat sich vervielfacht. Die Zuständigkeit bestimmter Hirnregionen für spezifische Wahrnehmungsleistungen und Emotionen, die Art und Weise, wie aus einer Vielzahl optischer Reize schließlich ein stimmiges Bild der Welt in unserem Kopf synthetisiert wird – die vollständige Erklärung all dessen scheint für die Neurophysiologie in greifbare Nähe gerückt.
Für den interessierten Laien entsteht dabei der Eindruck, dass wir Zeuge einer weiteren Entzauberung der Welt werden: so wie die Astronomie Gott aus dem Universum vertrieben hat, so vertreibt die Hirnforschung den Geist aus dem menschlichen Schädel. "Harte" neurologische Fakten treten an die Stelle von "weichen" philosophischen Begriffen wie "Person" und "Gedanke". Immanuel Kants Postulat einer subjektiven Schaltstelle, eines "Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können", entpuppt sich aus der Sicht des heutigen neurologischen Naturalismus geradezu als Geisterseherei.
Der Zürcher Wissenschaftshistoriker Michael Hagner tritt in seinem hervorragenden Buch nun den Nachweis an, dass die neurophysiologische Entzauberung ebenfalls nicht ohne einen Griff in die Trickkiste auskommt. Dreh- und Angelpunkt von Hagners immens kenntnisreicher Studie ist die These, dass wissenschaftliche Revolutionen keine Selbstläufer sind, sondern dass jede Bahn brechende Einsicht auf ein Milieu angewiesen ist, in der sie als solche überhaupt erst auf Resonanz stößt.
Die Breitenwirkung der neuesten Hirnforschung wäre nämlich undenkbar, wenn nicht immer bessere bildgebende Verfahren zur Verfügung stünden, die den Eindruck erwecken, als würden wir tatsächlich dem Geist bei der Arbeit zuschauen. Wer aber betende Nonnen in die Röhre schiebt und glaubt, dass die in der Magnet-Resonanz-Tomographie beobachtbare Aktivierung bestimmter Hirnareale das religiöse Empfinden erklärt, der begeht einen folgenreichen Kategorienfehler.
Hiermit verhält es sich etwa so, wie mit der Aura-Forschung anno 1913. Damals wurden Versuchspersonen hinter einen blaugrünen Farbschirm gesetzt. Zugrunde lag die heutzutage nicht mehr mehrheitsfähige Überzeugung, dass Gedanken so genannte "fluidale Energien" erzeugen, die durch eine Schädelöffnung als "Aura" ausströmen. Entsprechend empfindsame Beobachter jedenfalls bezeugten seinerzeit ein grünes Schimmern oberhalb des Kopfes der Probanden. Als eine Versuchsperson dann auch noch angab (es soll sich um ein Experiment in der Vorweihnachtszeit gehandelt haben), sie habe an einen Tannenbaum gedacht, galt der Beweis als erbracht.
Solche Anekdoten sind für Michael Hagner aber nicht nur esoterisches Beiwerk der Wissenschaftsgeschichte. Ist Migräne ein Zeichen für wissenschaftliche (männliche) Exzellenz oder für eine (weibliche) Gemütskrankheit, wie es im 19. Jahrhundert lebhaft diskutiert wurde? Ist der Gehirnschaden nach Kopfschuss – der erste Weltkrieg lieferte erstmals drastisches Fotomaterial – eine ebenso ehrenhafte Verwundung wie ein verlorener Arm? An diesen Beispielen wird deutlich, dass wissenschaftliche Rationalität ein Prozess ist, der selbst nicht immer nach rationalen Regeln verläuft.
So ist die Vorstellung, dass sich bestimmte Gedankeninhalte auf dem Bildschirm sichtbar machen lassen zunächst ja eine durchaus praktische Vereinfachung. Denn wer etwas Kompliziertes erklären will, muss auf dem Weg dorthin schon mal fünfe gerade sein lassen. In der Physik wäre so manche kosmologische Berechnung ohne Näherungswerte ganz undenkbar.
Die Behauptung aber, dass sich einzelne Gedanken auf dem Bildschirm sichtbar machen lassen, impliziert eine Aussage über die materielle Beschaffenheit des menschlichen Geistes, die viel weiter geht. Hinter den visuellen Möglichkeiten der Darstellungstechnologie droht alles Nichtbildliche zu verschwinden. Erst durch solche unausgesprochenen Auslassungen und Verkürzungen kommen die steilen Thesen à la "Es gibt keine Willensfreiheit" zustande, durch die philosophierende Hirnforscher wie Wolf Singer sich zumindest die Aufmerksamkeit der Feuilletons gesichert haben.
In diesem Sinne kann man Hagners Buch als Beitrag zur Selbstaufklärung der Wissenschaften lesen, der auch für ein breites Publikum von größtem Interesse ist.
Freilich hat in diesen Dingen auch der Alltagsverstand eine gewisse Skepsis entwickelt. Denn um dem Geist bei der Arbeit zuzuschauen, muss man nicht unbedingt die Hirnforschung konsultieren. Wir würden in Herzensangelegenheiten ja auch nicht ohne weiteres zum Kardiologen gehen.
Rezensiert von Ralf Müller-Schmid
Michael Hagner, Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung,
Wallstein Verlag 2006, 284 S., 28 Euro
Für den interessierten Laien entsteht dabei der Eindruck, dass wir Zeuge einer weiteren Entzauberung der Welt werden: so wie die Astronomie Gott aus dem Universum vertrieben hat, so vertreibt die Hirnforschung den Geist aus dem menschlichen Schädel. "Harte" neurologische Fakten treten an die Stelle von "weichen" philosophischen Begriffen wie "Person" und "Gedanke". Immanuel Kants Postulat einer subjektiven Schaltstelle, eines "Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können", entpuppt sich aus der Sicht des heutigen neurologischen Naturalismus geradezu als Geisterseherei.
Der Zürcher Wissenschaftshistoriker Michael Hagner tritt in seinem hervorragenden Buch nun den Nachweis an, dass die neurophysiologische Entzauberung ebenfalls nicht ohne einen Griff in die Trickkiste auskommt. Dreh- und Angelpunkt von Hagners immens kenntnisreicher Studie ist die These, dass wissenschaftliche Revolutionen keine Selbstläufer sind, sondern dass jede Bahn brechende Einsicht auf ein Milieu angewiesen ist, in der sie als solche überhaupt erst auf Resonanz stößt.
Die Breitenwirkung der neuesten Hirnforschung wäre nämlich undenkbar, wenn nicht immer bessere bildgebende Verfahren zur Verfügung stünden, die den Eindruck erwecken, als würden wir tatsächlich dem Geist bei der Arbeit zuschauen. Wer aber betende Nonnen in die Röhre schiebt und glaubt, dass die in der Magnet-Resonanz-Tomographie beobachtbare Aktivierung bestimmter Hirnareale das religiöse Empfinden erklärt, der begeht einen folgenreichen Kategorienfehler.
Hiermit verhält es sich etwa so, wie mit der Aura-Forschung anno 1913. Damals wurden Versuchspersonen hinter einen blaugrünen Farbschirm gesetzt. Zugrunde lag die heutzutage nicht mehr mehrheitsfähige Überzeugung, dass Gedanken so genannte "fluidale Energien" erzeugen, die durch eine Schädelöffnung als "Aura" ausströmen. Entsprechend empfindsame Beobachter jedenfalls bezeugten seinerzeit ein grünes Schimmern oberhalb des Kopfes der Probanden. Als eine Versuchsperson dann auch noch angab (es soll sich um ein Experiment in der Vorweihnachtszeit gehandelt haben), sie habe an einen Tannenbaum gedacht, galt der Beweis als erbracht.
Solche Anekdoten sind für Michael Hagner aber nicht nur esoterisches Beiwerk der Wissenschaftsgeschichte. Ist Migräne ein Zeichen für wissenschaftliche (männliche) Exzellenz oder für eine (weibliche) Gemütskrankheit, wie es im 19. Jahrhundert lebhaft diskutiert wurde? Ist der Gehirnschaden nach Kopfschuss – der erste Weltkrieg lieferte erstmals drastisches Fotomaterial – eine ebenso ehrenhafte Verwundung wie ein verlorener Arm? An diesen Beispielen wird deutlich, dass wissenschaftliche Rationalität ein Prozess ist, der selbst nicht immer nach rationalen Regeln verläuft.
So ist die Vorstellung, dass sich bestimmte Gedankeninhalte auf dem Bildschirm sichtbar machen lassen zunächst ja eine durchaus praktische Vereinfachung. Denn wer etwas Kompliziertes erklären will, muss auf dem Weg dorthin schon mal fünfe gerade sein lassen. In der Physik wäre so manche kosmologische Berechnung ohne Näherungswerte ganz undenkbar.
Die Behauptung aber, dass sich einzelne Gedanken auf dem Bildschirm sichtbar machen lassen, impliziert eine Aussage über die materielle Beschaffenheit des menschlichen Geistes, die viel weiter geht. Hinter den visuellen Möglichkeiten der Darstellungstechnologie droht alles Nichtbildliche zu verschwinden. Erst durch solche unausgesprochenen Auslassungen und Verkürzungen kommen die steilen Thesen à la "Es gibt keine Willensfreiheit" zustande, durch die philosophierende Hirnforscher wie Wolf Singer sich zumindest die Aufmerksamkeit der Feuilletons gesichert haben.
In diesem Sinne kann man Hagners Buch als Beitrag zur Selbstaufklärung der Wissenschaften lesen, der auch für ein breites Publikum von größtem Interesse ist.
Freilich hat in diesen Dingen auch der Alltagsverstand eine gewisse Skepsis entwickelt. Denn um dem Geist bei der Arbeit zuzuschauen, muss man nicht unbedingt die Hirnforschung konsultieren. Wir würden in Herzensangelegenheiten ja auch nicht ohne weiteres zum Kardiologen gehen.
Rezensiert von Ralf Müller-Schmid
Michael Hagner, Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung,
Wallstein Verlag 2006, 284 S., 28 Euro