Bilderbuch "Ein Blatt im Wind"

Eine Tageszeitung erzählt aus ihrem Leben

Buchcover "Ein Blatt im Wind" von José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez, im Hintergrund lesende Kinder
Buchcover "Ein Blatt im Wind" von José Sanabria und María Laura Díaz Domínguez, im Hintergrund lesende Kinder © NordSüd Verlag / imago / Zuma Press
Von Sylvia Schwab |
"Ein Blatt im Wind" – der Titel suggeriert Herbst, Sturm und Regen. Doch im neuen Bilderbuch von José Sanabria und María Díaz Domínguez geht es um etwas ganz anderes: Eine sprechende Tageszeitung, die aus ihrem ereignisreichen Leben erzählt.
"Ich kam eines frühen Morgens zur Welt, an einem großen, kalten Ort" lautet der erste Satz dieses ungewöhnlichen Bilderbuchs. Wer hier erzählt, das begreift man erst nach ein paar Seiten: Kein Eskimokind, kein Pinguin, kein Eisbär. Sondern --- eine Zeitung! Eine sprechende Zeitung, die genau das tut, was alle Zeitungen tun, nämlich: erzählen. Wobei sie ihre eigene Geschichte erzählt, und das ist die besondere Ausgangsidee dieses Bilderbuchs.

Als letzte im Kiosk liegengeblieben

Mit einem ganzen Stapel anderer "Neulinge" wird die Zeitung per LKW an einen Kiosk ausgeliefert, von dort werden alle Exemplare – Stück für Stück – verkauft. Total unterschiedliche Menschen holen sich ihr Blatt ab, nur die Erzählerin selbst bleibt auf dem Tresen liegen. Bis ein Windstoß sie empor wirbelt, auseinander reißt und jede Zeitungsseite wie einen großen Vogel über die Stadt schweben lässt. Jedes dieser Blätter wird von einem Menschen aufgefangen und auf unterschiedliche Weise benutzt: Als Putzlappen, als gefaltetes Schiffchen, als Maler-Hut.
Und jedes Blatt trifft auf eine andere existentielle Situation. Eines lernt die Liebe kennen: als Dach für zwei Verliebte. Eines den Schmerz: als Verpackung für ein totes Haustier. Eines erlebt die Hitze im Feuer, ein anderes die Kälte: als Decke eines Straßenköters. Nur das letzte Zeitungsblatt wird wirklich gelesen und macht seinen Leser durch eine wunderbare Nachricht so glücklich, dass er selbst durch die Luft schwebt "wie ein Blatt im Wind".

Reduzierter Text und kraftvolle Bilder

Eine außergewöhnliche Geschichte, nicht nur, weil eine Zeitung selbst erzählt. Oder weil deutlich wird, wie viele Funktionen ein Zeitungsblatt erfüllen kann. Auch deshalb, weil der Text so reduziert ist – meist nur ein Satz pro Seite – dass jedem einzelnen Satz ein besonderes Gewicht zukommt. Und dann, weil die Bilder von José Sanabria farblich und technisch sehr eigenwillig gemacht sind.
Eher dunkel gehalten, mit Hintergründen, die an grob gestrichene Betonwände erinnern, strahlen diese Bilder eine große Kraft und Dynamik aus. Flächig gehaltene Formen und Figuren und naive Interieurs stehen in starkem Kontrast zu abstrahierten Gegenständen und zarten Zeitungsseiten. Zeitungsblätter fliegen, schweben, liegen, werden zerknüllt oder gelesen - keine Buchseite ist ohne collageartig gestaltetes Zeigungsblatt.

Eine Hommage an ein trivialisiertes Medium

Grafisch gesehen ist dieses Bilderbuch eine Hommage an die Ästhetik und das Layout der Zeitung. Das ist surreal und zauberhaft und passt perfekt in eine Geschichte, in der die Zeitung als Medium eher trivialisiert wird.
Kinder werden lachen oder sich wundern über diese Zeitungserzählung. Erwachsene können sich an ihrer "tieferen" Bedeutung erfreuen: Der Sinn des Lebens – auch des Lebens einer Zeitung – liegt darin, andere glücklich zu machen. Oder ihnen zu helfen – egal ob als Putzlappen, Bettdecke, Helm oder Dach. So wie der Sinn eines schönen Bilderbuchs darin liegt, uns glücklich zu machen. Leise und ohne Zeigefinger, so wie dieses.

José Sanabria, María Laura Díaz Domínguez: Ein Blatt im Wind
NordSüd Verlag, Zürich 2018
48 Seiten, 16 Euro, ab 5 Jahren

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