Tohby Riddle: Der Engel aus dem Nirgendwo
Aus dem Englischen von Hans-Jürgen Hufeisen
Gabriel Verlag, Stuttgart 2014
128 Seiten, 24,99 Euro
Ein kleiner Engel auf Erden
"Der Engel aus dem Nirgendwo" sinkt in der Geschichte Tohby Riddles, vom Mitgefühl für die Menschen überwältigt, auf die Erde - und braucht plötzlich selbst deren Hilfe. Wie einen Stummfilm inszeniert der Autor und Illustrator sein geheimnisvolles Bilderbuch.
"Der Engel aus dem Nirgendwo" ist kein Weihnachtsengel. Er kommt in unsere Welt. Einfach so. Zu einem Zeitpunkt irgendwann im Herbst, vielleicht aber auch an einem anderen Tag. Vielleicht auch nie, wenn wir nicht an ihn glauben. Oder er kommt jetzt gerade - beim Betrachten dieses wunderbar skurrilen Buches.
Tohby Riddle erzählt eigentlich eine simple Geschichte: Kleine weiße Engel sind ständig unterwegs, um die gestressten und sich selbst entfremdeten Menschen zu begleiten und zu beschützen. Sie versuchen Wärme zu spenden, auf dieser deprimierend düsteren Erde. Doch irgendwann sinkt eine der kleinen weißen Gestalten von Mitgefühl für die armen Menschen überwältigt, hinunter auf den Boden. Der Engel streift ermattet durch kalte Hochhausschluchten und alptraumhaftwirkende U-Bahn-Bahnen, bis er todmüde auf einer Parkbank niedersinkt und versteinert. Erst da können die Menschen den kleinen Engel sehen. Sie transportieren ihn ab, stellen ihn als Denkmal auf einen Sockel. Und von dort retten ihn Kinder und Tiere, sie pflegen ihn heimlich gesund und geben ihm so all das Gute, das er bisher den Menschen geschenkt hat, zurück. Kurz darauf entschwindet er wieder - ins Nirgendwo.
Träumerisch, aber nicht kitschig
Egal, ob man diese Geschichte ein Märchen oder Gleichnis nennt, sie kommt einem bekannt vor – so archaisch, bildhaft und voller unausgesprochener Bedeutungen. Der Text beschränkt sich aufs Wesentliche. Oft reichen zwei träumerische Worte pro Doppelseite, um weiter zu kommen, manchmal erzählen auch nur die Bilder. Sie sind dann auch das eigentliche Bedeutende am Buch: Die Bilder bewahren die träumerische Geschichte davor, ins Kitschige abzugleiten. Und sie setzen grandiose, kreative Akzente, indem sie unterschiedlichste Techniken miteinander kombinieren und ineinander komponieren. Es sind Collagen aus alten Postkarten, Fotos, eigenen Zeichnungen, sie mischen Reales und Surreales, Wirklichkeit und Traum. Riddle zitiert berühmte Kunstwerke und nutzt immer wieder die imposanten Jahrhundertwendebauten Manhattans. Düsterkeit geht von vielen Bildern aus, einsam sind die Menschen, steinern und maskenhaft.
Aus den schwarzen Bildseiten hebt sich das fast romantische Geschehen leuchtend hervor: Der glühende Sternenhimmel, das gleißende Europa - wie aus einer Raumsonde fotografiert -, die kleinen weißen Engelsgestalten, die Lichter der Großstadt, die Beleuchtung von Brücken und Hochhäusern. Tohby Riddle inszeniert seine Geschichte wie einen Stummfilm. Doch es gibt auch Farben in dieser deprimierenden Welt, allerdings wenige. Einen herbstlich bunten Baum, eine grüne Wiese, viel blauen Himmel oder ein glühender Abendhimmel. Farben, die Hoffnung signalisieren, wie der kleine Engel, der da auf die Erde kommt. Und hier in einer unheilen Welt für kurze Zeit Ruhe, Wärme und Heilung spendet - und selber findet!
Also doch eine Weihnachtsgeschichte? Eine der anderen Art? Auf jeden Fall ein großes, geheimnisvolles Bilderkunstwerk!