Bilderbuch

Wenn ein Mädchen auf Reisen geht

.Kinderhände halten einen roten Ball in die Luft.
Nur der Kinderroller, der Drache, der Stift - und der Ball - des Mädchens in Aaron Beckers "Die Reise" sind rot, alles andere: graubraun. © Imago Niehoff
Von Sylvia Schwab |
Mit Kreide malt sich das kleine Mädchen in Aaron Beckers "Die Reise" weg aus dem graubraunen New York in eine fantastische Zauberwelt. Erzählt wird eine archaische Geschichte über Gefahr und Rettung, die ganz ohne Worte auskommt.
New York ist öde. Zumindest für das kleine Mädchen, das auf den Stufen vor seiner Haustür sitzt. Graubraun sind die Häuser, die Straße und die Skyline, selbst die Bäume, rot leuchtet allein der kleine Kinderroller. Auch die Wohnung, in die man hineinschauen kann: graubraun. Die Eltern, die Schwester – alles stinknormal und mordslangweilig! Rot sind nur wieder der Drache des Mädchens, sein Ball und sein Stift.
Was macht man, wenn man sich richtig langweilt? Man flüchtet in die Fantasie und malt sich spannende Abenteuer aus. Genau das tut das Mädchen – im wahrsten Sinn des Wortes. Mit seiner roten Kreide malt es eine Tür in die Zimmerwand und rennt hindurch, hinein in eine phantastische Zauberwelt voller zart glimmender Laternen.
Wer Pate steht für diese geniale Ausgangsidee ist klar: Crockett Johnson hat schon in seinem 1955 erschienenen Bilderbuch "Harold und die Zauberkreide" die Idee illustriert, wie sich ein kleiner Junge, der nicht einschlafen kann, seine eigene Welt zeichnet. Doch wo Johnson seine Geschichte auf einfache Linien und wenige Farben reduzierte, malt Aaron Becker seine Welt in kunstvoll komponierten Bildern und ausgesuchten Farben. Nicht in grellen Tönen, sondern in stimmungsvoll grünen, zart blauen, leise violetten und intensiv lilafarbenen Aquarellen. Schon beim ersten Blättern bekommt man große Lust auf diese Augenschmaus-Reise – von der das Mädchen am Schluss wieder heil in seine Welt zurückkehrt.
Die Welt "auf der anderen Seite"
Die Idee von der erfundenen Welt "auf der anderen Seite" – einer Wand, eines Spiegels, eines Bildes oder Schrankes – ist ja so alt wie Märchen selbst. Auch die moderne Fantasy-Literatur spielt mit ihr. Cornelia Funkes Spiegelwelt, von der sie in ihrer jüngsten "Reckless"-Reihe erzählt, ist ein aktuelles Beispiel. Bei Aaron Becker malt sich das Mädchen mit seiner roten Kreide ein rotes Boot und schippert damit über die Wasserstraßen einer großen alten Zauberstadt. Mit ihren Türmen, Brücken, Befestigungen und goldenen Kuppeln wirkt diese wie eine Mischung aus Venedig, Istanbul und Siena. Das Kind besteht turbulente Abenteuer: per Boot, Ballon und fliegendem Teppich, es reist übers Wasser und durch die Luft, schwebt an riesigen kunstvollen Flugobjekten vorbei, befreit einen Zaubervogel, wird von martialischen Kriegern gefangen genommen – doch Dank des Zaubervogels gelingt die Flucht.
Aaron Becker erzählt eine archaische Geschichte über Gefahr und Rettung, die fast etwas von einem Traum hat. Und er kommt dabei ohne Worte aus, seine Bilder brauchen keinerlei Erklärung, sie sprechen für sich, entführen und verzaubern. Sein Bilderbuch ist dabei nicht einfach nur schön, es macht Mut und Lust, sich seiner eigenen Fantasie zu bedienen.

Aaron Becker: Die Reise
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2015
40 Seiten, 14,95 Euro, ab 5 Jahren

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