Bildung

Einmal G8 und zurück

Abitur-Klausuren werden in Stuttgart im Regierungspräsidium sortiert und für die Zweitkorrektur verteilt.
Reichen zwölf Jahre bis zum Abitur? © picture-alliance/ dpa / Franziska Kraufmann
Von Alexander Budde, Michael Watzke, Axel Schröder und Anke Petermann |
Der Widerstand gegen das Turbo-Abi wächst: In mehreren Bundesländern laufen Elterninitiativen Sturm gegen die achtjährige Gymnasialzeit und fordern eine Entschleunigung des Schulalltags. Niedersachsen hat im Streit um G8 schon eingelenkt. Ob weitere Bundesländer folgen, ist fraglich.
Niedersachsen
"Der Stein fliegt etwa von hier oben in die ersten Reihen der Orks. Also hätte ich gern von Euch jetzt Werte reingeworfen. Was soll ich bei h einsetzen?"
Auf der Technik-Schau IdeenExpo in Hannover prüft Anka Kirschner, ob die Gesetze der Schwerkraft auch in Mittelerde gelten. Die Maschinenbau-Studentin aus Göttingen nimmt eine mit Spezialeffekten angereicherte Szene aus dem Film "Herr der Ringe" zum Anlass, allerhand kompliziert anmutende Berechnungen anzustellen.
"Unser Moment ist gleich die Masse mal die Geschwindigkeit zum Quadrat mit der der Stein losfliegt."
Der amüsante Kurzvortrag vor der jugendlichen Zielgruppe soll der Werbung dienen. Und er hat einen ernsten Hintergrund: Deutschland, dem Land der Tüftler und Erfinder, gehen die Talente aus. Schon 2020 könnten der Industrie über 400.000 Ingenieure fehlen. Wenn Volker Schmidt morgens aus dem Bett federt, ist diese größte seiner Sorgen schon da. Das so genannte Turbo-Abitur ist eine weitere. 2004 war es in größter Eile in Niedersachsen eingeführt worden. Der Hautgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Niedersachsenmetall beobachtet, wie seither mehr und mehr Schüler vor lernintensiven Fächern wie Mathe und Naturwissenschaften zurückschrecken.
"Die Lehrstoffüberfrachtung ist so deutlich und so signifikant, dass viele junge Leute sagen: Ingenieurwissenschaften zu studieren, technische Fächer später als Berufsweg zu suchen: das geht an meinen Neigungen vorbei. Und das berührt uns im Kern, weil hier letztendlich der wichtige Nachwuchs heranwachsen soll."
Rascher durch die Schule, jung und dynamisch in die Uni und auf den Arbeitsmarkt: Schmidt zählte einst zu jenen Industrielobbyisten, denen die Einführung des Abiturs nach nur acht Schuljahren, kurz G8, gar nicht schnell genug gehen konnte. Doch G8 hatte sich noch nicht eingespielt, da war der Unmut auch in den Betrieben schon zu einem lauten Proteststurm angeschwollen. Wie so viele im Lande hat sich Schmidt geschmeidig vom Saulus zum Paulus gewandelt.
Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) am 19.02.2014 im Landtag in Hannover während der Landespressekonferenz.
Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD)© picture alliance / dpa
Sozialkompetenz bleibt auf der Strecke
"Was in unseren Unternehmen zuletzt kritisch angemerkt wurde, ist, dass viele jugendliche Bewerber schlichtweg nicht mehr die erforderliche Sozialkompetenz haben, dass es vielfach sehr straighte Lebenswege gibt, aber kein Engagement im jugendlichen Ehrenamt. Man muss Teamgeist kultivieren können. Man muss lernen, schon frühzeitig auch andere mitzunehmen."
Für das alte G8 mochte in Niedersachsen zuletzt kaum ein Akteur noch streiten. Erst ließ Frauke Heiligenstadt hinter verschlossenen Türen eine Expertengruppe über Modelle zur Umgestaltung der gymnasialen Oberstufe nachdenken. Dann kündigte die niedersächsische SPD-Kultusministerin baldige Korrekturen an. Das neue Zauberwort lautet "Entschleunigung". Ein bloßes Zurück zu den alten Lehrplänen sei damit aber nicht gemeint, betont die Ministerin:
"Ich denke, wenn wir den Schülerinnen und Schülern mehr Zeit zum Lernen und Leben geben, dann dürfen wir nicht die neu gewonnene Zeit dazu benutzen, dann auch tatsächlich wieder zusätzliche Inhalte in den Kern-Curricula anzubringen."
Die rot-grüne Landesregierung verspricht, die Gymnasien mit zusätzlichen Förderstunden auszustatten. Bereits in der fünften und sechsten Klasse soll es künftig mehr Freiraum für individuelle Förderung geben. Auch in der zehnten Klasse soll es zusätzliche Unterstützung für leistungsstarke Schüler geben, die ihre Schulzeit individuell verkürzen können, indem sie die elfte Klasse überspringen. Die Schulreformer in Niedersachsen wollen die Ganztagsschulen ausbauen und die integrierten Gesamtschulen fördern. Weil dort das Abitur nach neun Jahren schon länger im Angebot ist, was einen gewissen Andrang zur Folge hatte, sahen sich die Gymnasien zuletzt benachteiligt. Kein Wunder also, dass auch der Philologenverband vom einst umworbenen "Turbo-Abi" abgerückt ist. Horst Audritz, der Vorsitzende, dringt auf eine möglichst rasche Rückkehr zum G9. Doch den Schülern einfach nur mehr Zeit für ihren Abschluss einzuräumen, das sei zu wenig:
"Klausuren streichen, Leistungsanforderungen einschränken darf nicht das Ziel sein. Sondern Ziel muss sein, den hohen Qualitätsstandard des Abiturs allgemein zu erhalten."
"Ich finde, Vorreiterrolle hat immer einen Beigeschmack von Versuchskaninchen!"
Hält Helge Feußahrens dagegen. Ausgerechnet von den Betroffenen kommt der lauteste Widerspruch gegen die chronische Reformitis. Viele Schüler hatten sich mit dem Turbo-Abitur arrangiert, gibt der Vorsitzende des Landesschülerrats zu bedenken. Die Schule bräuchte vor allem Ruhe, sagt er.
Bayern
Die Jungen in der CSU wollen das G8 retten! Hans Reichhart, Vorsitzender der Jungen Union Bayern:
"Ja, wir werden fürs G8 kämpfen. Wir haben eine sehr positive Rückmeldung von unseren Leuten. Auch von Lehrern, die in der JU aktiv sind. Die sagen: gebt uns die Ruhe, lasst uns Zeit zum Arbeiten am G8. Damit am Ende die Grundentscheidung G8 erhalten bleibt."
Das sei auch eine Frage der Glaubwürdigkeit, sagt Reichhart. Schließlich habe CSU-Chef Seehofer im Wahlkampf stets versprochen:
"Es gibt keine Rückkehr zum G9!"
So will das auch die Schüler-Union der CSU und der konservative Ring christlich-demokratischer Studenten, kurz RCDS. Doch nun, fürchtet JU-Chef Reichhart, kippt Seehofer um. Denn wer den bayerischen Ministerpräsidenten heute nach G8 oder G9 fragt, der hört solche Sätze:
"Wir sind mitten in einem Dialogprozess über G8/G9. Festlegungen oder Entscheidungen folgen am Ende des Diskussionsprozesses."
Seehofer verweist auf ein Eckpunkte-Papier des bayerischen Philologen-Verbandes. Dieses Konzept sieht im Kern eine Rückkehr zum G9 vor - mit der Möglichkeit für einige Schüler, das Abitur auch in acht Jahren zu erlangen. Seehofer sympathisiert mit diesem Programm. Thomas Kreuzer dagegen, der Fraktions-Chef der CSU im bayerischen Landtag, lehnt es ab:
"Ich sehe beim Konzept des Philologen-Verbandes schon die Schwäche, dass ein Schüler, wenn er es in acht Jahren schaffen will, eine Klasse überspringen muss. Er müsste dann in der Klasse davor zusätzlich Nachmittagsunterricht nehmen, dann überspringen, und in der Klasse danach auch zusätzlich Nachmittagsunterricht nehmen. Er würde aus seinem Klassenverband herausgelöst werden, in eine andere Klasse kommen."

Ein Schild am Eingang des Hölderlin-Gymnasiums in Stuttgart ermahnt zu Ruhe.
Ein Schild am Eingang des Hölderlin-Gymnasiums in Stuttgart ermahnt zu Ruhe.© AP
Die CSU will sich nicht festlegen
Und das würden wahrscheinlich nur wenige Schüler auf sich nehmen. Also was nun? G8 mit der Möglichkeit für schwächere Schüler, auch neun Jahre fürs Abitur zu brauchen? Oder G9 mit der Möglichkeit für stärkere Schüler, es auch in acht Jahren zu schaffen? Im bayerischen Schulgesetz muss am Ende ein Richtwert stehen, eine Zahl: acht oder neun. In Niedersachsen hat sich die rot-grüne Landesregierung auf die vollständige Rückkehr zum G9 geeinigt, in Sachsen bleibt die CDU beim G8. Nur die CSU in Bayern will sich nicht festlegen. Kultusminister Ludwig Spaenle sagt:
"Eine neunjährige Form für alle Schüler ist pädagogisch genauso überholt wie eine achtjährige Form für alle Schüler."
Ministerpräsident Seehofer fordert sogar:
"... nicht über Jahreszahlen zu diskutieren, sondern über die Frage, wie man die individuelle Förderung verbessern kann."
Das wollte die CSU bisher mit dem sogenannten Flexi-Jahr, einer Art freiwilligem Wiederholungsjahr für Gymnasiasten, die das Abitur nicht in acht Jahren schaffen. Doch innerhalb eines Jahres haben gerade mal 500 Schüler dieses Angebot angenommen, sagt der schulpolitische Sprecher der FW, Günther Felbinger:
"Wer wie Sie ein missratenes Flexibilisierungskonzept vorlegt, das lediglich 0,2 Prozent der bayerischen Gymnasiasten wahrnehmen, der ist ein Bruchpilot und eine große Gefahr für die Weiterentwicklung des bayerischen Gymnasiums."
Die freien Wähler machen Druck auf die Staatsregierung - mit einem Volksbegehren, das den bayerischen Gymnasien die Möglichkeit geben soll, zwischen G8 und G9 zu wählen. Das Problem dabei: In der Schullandschaft des Freistaats würde ein Flickenteppich entstehen - und die Kosten für die Schulbildung würden steigen. Denn G9 ist teurer als G8, weil man mehr Lehrer und mehr Klassenräume braucht. Deshalb unterstützen auch weder die Grünen noch die SPD in Bayern das Volksbegehren der Freien Wähler. Aber Martin Güll, der bildungspolitische Sprecher der SPD, fordert von der Staatsregierung jetzt Taten statt Worte:
"Da gibt es immer noch kein Konzept. Immer noch keine klare Ansage, warum man gymnasiale Bildung in acht statt in neun Jahren machen muss."
CSU-Chef Seehofer will aber noch einige Wochen diskutieren. Am liebsten bis nach der Europa-Wahl Ende Mai. Danach soll es einen Gymnasial-Kongress der Staatsregierung geben - und eine Entscheidung für G8 oder G9. Vielleicht. Vielleicht aber auch für G achteinhalb.
Hamburg
Mareile Kirsch hat Rückenwind. Die Hamburgerin kämpft für die Initiative "G9 Jetzt Hamburg". Die erste Hürde zum Volksentscheid, in einem halben Jahr 10.000 Unterschriften für ihr Anliegen zu sammeln, hat sie locker genommen. Und in einer Umfrage des Hamburger Abendblatts votierten 70 Prozent der Hamburgerinnen und Hamburger für eine Rückkehr zum Gymnasial-Abitur nach 13 Schuljahren. Mareile Kirsch, die Mutter eines Gymnasiasten, sitzt bei einem Cappuccino in ihrem Lieblingscafé in Hamburg-Altona und macht klar, warum sie das Turbo-Abi strikt ablehnt:
"Das hat nichts mit humanistischer Bildung zu tun! Wir wünschen uns eben Zeit zum Selbstdenken! Entwicklung von Persönlichkeit! Auf der Basis von Wissen! Das Wissen darf auch nicht quasi von der Politik selektiert werden nach dem Motto: Das ist wichtig, wir machen jetzt nur noch exemplarisches Wissen! Sondern es gehört schon die breite und tiefe Allgemeinbildung dazu. Aus der dann Kinder selbst lernen, Prioritäten zu setzen und gedankliche Verbindungen herzustellen, die nicht in dem schnellen Stakkato eines G8 mit Acht- oder Elf-Stunden-Tagen möglich sind!"
Zum Rückenwind durch die Abendblatt-Umfrage bläst der Initiative seit einigen Wochen aber auch ein scharfer Wind von vorn ins Gesicht: Nicht nur alle Parteien in der Hamburgischen Bürgerschaft lehnen die Pläne der Volksinitiative ab. Auch die Eltern-, die Schüler- und die Lehrerkammer verteidigen den status quo, das Abitur nach acht Jahren an allen Hamburger Gymnasien. Vor allem aus zwei Gründen: Erstens bieten die Stadtteilschulen an der Elbe ein Abitur nach neun Jahren schon heute an. Eltern und Kinder sind also nicht zum Turbo-Abi gezwungen. Zweitens will die Initiative nicht einfach zurück zum entschleunigten Abitur. Sondern den Eltern die Wahl lassen zwischen G8 und G9 an allen Gymnasien:
"Die Grundforderung ist, dass Eltern diese Wahlmöglichkeit haben. Zumal Pädagogen sagen: Das ist das beste Modell!"
Das sogenannte "Y-Modell", bei dem Schülerinnen und Schüler während ihrer Gymnasialzeit zwischen beiden Zweigen, zwischen G8 und G9 wechseln können. Erprobt an einigen wenigen Schulen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein. Die flächendeckende Einführung in Hamburg lehnt Schulsenator Ties Rabe, Kirschs Gegenspieler strikt ab:
"Das klingt alles wunderbar! Aber man wird schon stutzig, wenn man sieht, dass kein einziges Bundesland das flächendeckend macht. Stellen sie sich vor, jeder Lehrer muss für jede Klassenstufe zwei Unterrichtskonzepte, zwei verschiedene Lehrpläne pro Fach, zwei verschiedene Klausurenpläne pro Fach - all das im Kopf haben. Man kann mir viel erzählen und Hamburger Lehrerinnen und Lehrer sind sicherlich tüchtig - aber das traue ich niemandem zu. Dass das konfliktfrei und pannenfrei funktionieren kann."

Eine 10. Klasse in Bremen während einer Physikstunde.
Stressiger Alltag - Viele Eltern fordern eine Entschleunigung.© AP
Mehr Muße zum Lernen
Natürlich weiß Rabe, dass die Eltern, Schüler- und Lehrerkammer seine Haltung unterstützen. Und deshalb muss er die von ihm initiierte Befragung der Schulkonferenzen zum Thema kaum fürchten. Mareile Kirsch stempelt diesen Schachzug als politisches Manöver ab. Die Initiative will sich dadurch nicht beirren lassen. Winfried Rangnick, Direktor des Emilie-Wüstenfeld-Gymnasiums, versteht den Wunsch vieler Eltern nach mehr Muße für die Schüler, nach Entschleunigung des Schulalltags. Wie der Schulsenator hat auch er die Einführung des G9-Abiturs einst abgelehnt. Und will trotzdem am G8 festhalten:
"So wie die Initiative es vorschlägt, halte ich das tatsächlich für unausgegoren. Das wäre das Chaos an den Schulen. Wenn ich zu jedem Zeitpunkt zwischen G8 und G9 wechseln könnte. Das ist für uns eigentlich unvorstellbar. Und die Sortierung in G8-/G9-Gymnasien würde tatsächlich Gymnasien zweier Qualitäten erzeugen. Das ist nicht gut, davon halten wir nichts."
Wie an anderen Schulen auch verlief der Start des Turbo-Abiturs am Emilie-Wüstenfeld-Gymnasien zwar mehr als holprig, erzählt der Schulleiter. Aber mittlerweile wurden aus Einzel- Doppelstunden, die Menge an Hausaufgaben wurde reduziert, halbstündige Pausen zur Erholung eingeführt. Kaum ein Kollegiumsmitglied wünscht sich nun das G9 zurück. - Gerrit Petrich, Vorsitzender der Hamburger Elternkammer, zweifelt auch am Sinn der Rolle rückwärts:
"Das, was Frau Kirsch vorschlägt, ist ja, dass wir die Unterrichtsstunden nicht verlängern. Wir machen einfach nur eine Streckung der Unterrichtsstunden um ein Jahr. Aber es gibt nicht eine Unterrichtsstunde mehr. Und das ist aus Sicht der Elternkammer überhaupt nicht verständlich, wenn man einerseits argumentiert: Wir brauchen mehr Zeit, mehr Vertiefung und andererseits aber die Unterrichtsstunden nicht erhöhen möchte, weil das dann ja wieder zu mehr zeitlicher Belastung führen würde."
Gelassener als Mareile Kirsch und als Senator Ties Rabe blicken offenbar nur die Schüler auf den Streit um ein Jahr mehr oder weniger bis zum Abi. Im Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium beginnt gleich die nächste Stunde, aber Zeit für ein Interview ist allemal, trotz G8, trotz Turbo:
"Ich finde es gar nicht so schwer und ich freue mich, dass ich ein Jahr früher aus der Schule komme."
"Es ist zwar nicht so anstrengend, insgesamt. Aber ich finde die Länge der Tage einfach blöd. Wenn man danach nicht mehr so viel machen kann."
"Ich finde, dieses Jahr fehlt einfach in der Entwicklung der Persönlichkeit. Dass man, wenn man 18 ist, nochmal ein Jahr in der Schule hat, die Ferien hat und dann nochmal mit seinen Freunden auf Partys gehen kann!"
Hessen
In Hessen fangen die Osterferien an. Gymnasiallehrer, Schulleiter und Eltern hängen erschöpft in den Seilen. Wie die Elternvertreterinnen, die in einem Frankfurter Cafe noch mal zurückblicken auf die turbulenten Konferenzen der vergangenen Wochen. Kerstin Höhmann hatte kurze Zeit lang gehofft, ihre Tochter, jetzt in der sechsten Klasse, könne von der neuen Wahlfreiheit profitieren.
"Ich hätte ihr einfach ein Jahr mehr Zeit auf der Schule gewünscht: Vertiefung, die Möglichkeit, zur rechten Zeit Dinge anzugehen die altersgemäß sind. Es gibt Kinder, die brauchen einfach ein bisschen länger Zeit. Das war mein Wunsch - G9. Nun sitzen wir aber in G8 und haben definitiv keine Wahl gehabt und haben sie auch jetzt eigentlich nicht gehabt."
Denn die Bedingungen für die neue Wahlfreiheit werten Kollegien an vielen hessischen Gesamtschulen und Gymnasien als nicht hinnehmbar. So auch an der Ziehenschule, auf die Höhmanns Tochter geht. Das Gymnasium im Frankfurter Norden war eines der ersten, das entschied, zur längeren Schulzeit zurückzukehren. Und eines der ersten, das ablehnte, das auch für die laufenden Jahrgänge zu tun. Nutzbar wäre die Wahlfreiheit gewesen, meint Schulleiter Manfred Eichenauer, wenn die schwarz-grüne Koalition nicht vorgeschrieben hätte, Eltern im gesamten Jahrgang zu befragen. Dann hätte die Schule das Parallelangebot G8/G9 nämlich auf die schülerstarken Englischklassen beschränken können. Gehofft hatte die Schule auch auf das volle G9-Pensum für die Umsteiger, ohne dass der in den G8-Klassen schon erteilte Unterricht angerechnet würde.
"Diese beiden Hoffnungen wurden dann allerdings sehr schnell zerstört: Nein, die Stunden die schon erteilt wurden, würden abgezogen. Und das bedeutete dann für uns, dass zum Beispiel in der zweiten Fremdsprache für die nächsten vier Jahre nur zehn Stunden für die zweite Fremdsprache übrig blieben."

Zehn Wochenstunden - zu wenig. Zum anderen hätte die Schule auch die Eltern der weniger schülerstarken Französischklassen abstimmen lassen müssen. Herausgekommen wären Minigruppen in der zweiten Fremdsprache sowie in Religion und Ethik. "Unser Profil hätten wir platt machen müssen", konstatiert Eichenauer. Dass aber die Ziehenschule ihr reiches Sprachen- und naturwissenschaftliches Angebot schrumpft, um Stunden für G9 locker zu machen, wollten auch die Eltern nicht. Der Schule machen Enttäuschte wie Kerstin Höhmann keinen Vorwurf, der schwarz-grünen Koalition schon:
"Ich persönlich halte das für ne Lachnummer, weil nicht konsequent durchdacht. Da wird ein wohlmeinendes Angebot gemacht, das letztendlich kein Angebot darstellt."
Wagt es eine Schule dennoch, die Wahl zwischen G8 und G9 auch für die laufenden Fünften bis Siebten anzubieten, folgt als zweiter Schritt eine anonyme Elternbefragung. Ein gefährliches Verfahren, nennt Christoph Degen von der SPD-Opposition. Denn:
"Es müssen mindestens 16 Schüler sein, die bei G8 bleiben wollen, damit eine eigene G8-Klasse zustande kommt. Wenn es weniger sind als 16, gibt es keine G8-Klasse, und dann müssen alle bei G8 bleiben. Und die, die zu G9 wollen, können es nicht machen."
So vorgeschrieben aus Gründen des Vertrauensschutzes für die Schüler, die mit der Aussicht auf das schnelle Abitur anfingen. Das neue Gesetz will Schwarz-Grün noch vor der Sommerpause durchbringen: Schulfrieden soll dann endlich einziehen. Doch vorerst kämpften Eltern an rund hundert hessischen Gymnasien mit harten Bandagen um ihre Präferenz. Von Mobbing und Manipulationsversuchen wird erzählt. Verzweifelte Eltern riefen bei der Frankfurter Elternbeiratsvorsitzenden Alix Puhl an:
"Was sollen wir den jetzt machen? Ich bin für G8 und ich möchte gern, dass mein Kind G8 bleibt, aber wenn ich das jetzt sage, gibt das Ärger in der Klasse. Und dann kam von gestandenen Männern die Aussage: Ich werde bei der öffentlichen Abstimmung für G9 abstimmen, aber wenn es dann hart auf hart kommt, werde ich für G8 stimmen. Ich werde aber mit meinem Kind darüber nicht reden, damit mein Kind nicht aus Versehen sagt, wir sind für G8."
Bedrohter Schulfriede
Versteckspiel und Animositäten in einer gespaltenen Elternschaft - Schulfrieden sieht anders aus, höhnen SPD, FDP und Linke unisono. Stürzt Schwarz-Grün die hessischen Gymnasien ins Chaos? Man habe aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre gelernt, betont Kultusminister Alexander Lorz, CDU:
"Wir verlangen daher ja auch von den Schulen aus gutem Grund eine entsprechende pädagogische Konzeption, über die die Schulkonferenz dann beschließen muss, um genau das zu gewährleisten, dass sich das Schulen sorgsam überlegen, wissen, worauf sie sich einlassen - dabei werden sie auch von uns beraten und begleitet - und dann mit einer entsprechenden konzeptionellen Grundlage in den Wechsel gehen."
Und was wird aus all den schönen Konzepten, wenn Eltern sich bei der konkreten Anmeldung anders entscheiden als in der anonymen und daher nicht verbindlichen Befragung zuvor, fragt SPD-Oppositionspolitiker Christoph Degen. Er hofft auf Nachbesserungen am Gesetzentwurf nach der geplanten parlamentarischen Anhörung im Mai. Langfristig allerdings fordern die Sozialdemokraten gemeinsam mit der Linken und der Volksinitiative G9-Wahl, das Turboabitur ganz abzuschaffen. Fest steht: Bis zum Schulfrieden ist es in Hessen noch weit.
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