Bildung im ersten Lebensjahrzehnt

Ada Sasse im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Nach einer Pilotphase tritt in Thüringen ein Bildungsplan für Kinder bis zum zehnten Lebensjahr in Kraft. Der Plan sei aus der Perspektive des Kindes verfasst, betont Projektleiterin Ada Sasse. Ihre Weltaneignung werde dort in drei Bildungsphasen eingeteilt, ohne dabei festzuschreiben, was Kinder in einem bestimmten Alter können sollten.
Liane von Billerbeck: Die Hirnforschung, die hat es ganz klar gemacht und die PISA-Studien auch, die Bildung von Kindern muss früher einsetzen als erst, wenn sie in die Schule kommen. Auch um den Bruch beim Schuleintritt zu kitten, und gerade Kinder aus Familien, in denen Bücher nicht zum Alltag gehören, besser zu fördern. In Thüringen ist jetzt nach einer Pilotphase ein Bildungsplan für die Null- bis Zehnjährigen in Kraft. Ada Sasse war die Projektleiterin und hat die Pilotprojekte für den Bildungsplan evaluiert. Bis vor Kurzem hat sie an der Universität der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt gearbeitet und jetzt am Institut für Erziehungswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Ich grüße Sie!

Ada Sasse: Guten Morgen, Frau Billerbeck!

von Billerbeck: Einen Bildungsplan für die null- bis zehnjährigen Kinder. Wieso ist da gerade Thüringen in der Vorreiterrolle?

Sasse: Wir waren in der Vorreiterrunde, sage ich mal, das zweite Bundesland. Das erste Bundesland, was einen Bildungsplan für Kinder bis zehn Jahre hatte, war Hessen. Und wir haben uns dieser Idee der hessischen Kollegen dann angeschlossen. Es macht insgesamt einen guten Sinn, einen Bildungsplan zu schreiben, der das gesamte erste Lebensjahrzehnt umfasst, weil Sie Kindergarten und Schule systematisch aneinanderbinden können. und das erleichtert Kindern die Übergänge von der einen zur anderen Institution.

von Billerbeck: Nun gibt es ja Bildungspläne für Kindergarten, Kitas und Schule auch anderswo. Was unterscheidet denn nun den Thüringer Bildungsplan? Was ist das Besondere daran?

Sasse: Es ist, wie schon gesagt, die Tatsache, dass dieser Bildungsplan das gesamte erste Lebensjahrzehnt umfasst. Ein zweites, sage ich mal, Alleinstellungsmerkmal ist, dass dieser Bildungsplan konsequent aus der Perspektive des Kindes verfasst worden ist. Wir fragen nicht danach, was verlangt die Gesellschaft von Kindern, sondern wir haben mit dem Bildungsplan danach gefragt, welche Ansprüche haben Kinder an die Gesellschaft mit Blick auf ihre Bildung. Weiteres Alleinstellungsmerkmal ist, dass wir den einzigen Bildungsplan in Thüringen haben, der konsequent auf Altersangaben verzichtet. Sie werden in diesem Plan keine Hinweise finden, was Kinder in einem bestimmten Alter können sollen. Stattdessen haben wir uns darauf geeinigt, kindliche Weltaneignung in drei Bildungsphasen zu beschreiben. Wir haben uns auf eine basale, elementare und primare Phase der Bildung der Weltaneignung verständigt.

von Billerbeck: Moment, Moment, jetzt müssen Sie uns erklären, was das ist. Kein Mensch weiß das!

Sasse: Wir sind davon ausgegangen, dass kindliche Bildungsprozesse in drei beschreibbaren Schritten oder in drei Schritten beschrieben werden können, wenn Sie das am Beispiel der sprachlichen Bildung nachvollziehen wollen: Sehr kleine Kinder fangen in der basalen Bildungsphase an, Schrift und Sprache als Kommunikationsmittel zu entdecken, in der elementaren Bildungsphase können sie diese Mittel selbst gut nutzen. Sie fangen an, über Sprache und Schrift auch nachzudenken. Und zu primaren Bildungsprozessen gehört dann, dass Kinder beispielsweise lesen und schreiben können. Die Einteilung in diese Phasen hat den Vorteil, dass diese beschriebenen Bildungsprozesse eben nicht mehr an Institutionen gebunden sind. Wir haben ja durchaus Kinder, die im Kindergarten schon anfangen zu lesen, und wir haben andere Kinder, die fangen mit dem Lesen vielleicht erst zum Ende der Grundschulzeit an.

von Billerbeck: Nun haben Sie gesagt, dieser Plan ist aus der Sicht des Kindes aufgestellt worden. Da würde ich ja gerne wissen, wie haben Sie das rausgekriegt. Haben Sie die Kinder gefragt?

Sasse: Ja, es ist natürlich auch das professionelle Wissen derjenigen Hochschullehrer und der Praxispartner eingeflossen, die am Plan mitgearbeitet haben. Aber es gibt ja doch sehr solides erziehungswissenschaftliches und auch entwicklungspsychologisches Wissen darüber, was Kinder in welchen Phasen ihrer Entwicklung an Wissen haben können und welche Bildung sie brauchen. Das kann man gut rekonstruieren.

von Billerbeck: Bevor wir mit Ada Sasse weiterreden, wollen wir uns jetzt anhören, wie dieser Bildungsplan in der Praxis umgesetzt wird. Unsere Thüringer Landeskorrespondentin Ulrike Greim, die war nämlich in einem Kindergarten in Jena.

von Billerbeck: Frau Sasse, haben Sie eigentlich, als Sie den Bildungsplan mit Ihren ganzen Kollegen aufgestellt haben, auch gefordert, wenn wir diese und jene Ziele durchsetzen wollen, dann brauchen wir soundso viel Geld und soundso viel Erzieher pro Kind oder pro Gruppe?

Sasse: Die Aufgabe des wissenschaftlichen Konsortiums, das den Plan erarbeitet hat, war ja zunächst mal, den Plan selbst auf die Beine zu bringen. Und das haben wir in einer sehr guten Qualität auch gemacht. Die Gestaltung von konkreten Rahmenbedingungen vor Ort ist aber nicht eine Aufgabe, die Sie erziehungswissenschaftlich in irgendeiner Art und Weise herleiten können, sondern das ist eine Aufgabe im politischen Feld selbst. Die Rahmenbedingungen für Bildungsarbeit müssen im Feld von Sozial- und Bildungspolitik ausgehandelt werden, und zwar mit allen Beteiligten, mit den Politikern, mit den Trägern der Einrichtung mit den Fachministerien. Und natürlich kann sich da auch jede Erzieherin und jeder Lehrer und jede Lehrerin vor Ort einmischen.

von Billerbeck: Trotzdem ist ja Ihr Plan Makulatur, wenn nicht genug Geld und nicht genug Erzieher da sind?

Sasse: Dass er Makulatur ist, glaube ich schon deshalb nicht, weil viele Dinge, die im Plan enthalten sind, ja von Erzieherinnen und Lehrern heute auch schon praktiziert wird. Es ist tatsächlich eine Aufgabe, die in einer politischen Diskussion auszuhandeln ist. Natürlich habe ich als politisch denkende Bürgerin dieses Landes und als Erziehungswissenschaftlerin dazu auch eine Position. Aber meine Position, die auch ein ganz klare ist, kann einen politischen Diskussionsprozess an dieser Stelle nicht ersetzen.

von Billerbeck: Gab es denn nun schon Anfragen aus anderen Bundesländern, die neugierig sind, wie Thüringen da so einen Bildungsplan aufgestellt hat und auch umsetzt?

Sasse: Ja, wir hatten Anfragen aus allen Bundesländern. Kollegen, die an vergleichbaren Plänen in anderen Bundesländern gearbeitet haben, die interessieren sich natürlich dafür, was im Feld passiert. Wir haben auch viele Nachfragen aus der Praxis bekommen. Es gibt zum Thüringer Bildungsplan eine Netzseite, die heißt www.thueringer-bildungsplan.de, und das ist eine gute Kommunikationsplattform, auf der uns auch viele Nachfragen erreichen.

von Billerbeck: Da werden auch die Nachfragen oder die Hinweise der Kindergärtnerinnen und Kindergärtner, Erzieherinnen, Lehrer aufgenommen und werden die dann in den Plan eingearbeitet? Wird der möglicherweise noch modifiziert?

Sasse: Pläne werden immer fortgeschrieben. Dieser Plan hier ist jetzt am 16. August diesen Jahres in Kraft getreten und wird sicherlich in einigen Jahren dann auch zur Weiterbearbeitung anstehen. Und all das, was wir an Informationen erhalten, über die Netzseite, über öffentliche Diskussionen, auch im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen wird mit Sicherheit auch in die Weiterführung des Plans in seiner Weiterentwicklung einfließen können.

von Billerbeck: Das Land Thüringen hat einen verbindlichen Bildungsplan für die Förderung der Kinder von null bis zehn Jahren eingeführt. Ada Sasse war meine Gesprächspartnerin. Sie ist am Erziehungswissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität Berlin und hat den Bildungsplan evaluiert. Ich danken Ihnen!

Sasse: Wiederhören!

von Billerbeck: In Thüringen hat sich übrigens eine Initiative gebildet, die mit einem Volksentscheid die Politik dazu bringen will, auch die nötigen Gelder für den Bildungsplan und die Umsetzung des Bildungsplans aufzubringen.