Bildung in Nigeria

Der Schlüssel zum Glück

Schulkinder in blauen Schuluniformen im Rochas College, Nigeria.
Schulkinder im Rochas College, Nigeria. © Dlf Kultur (Adama Ullrich)
Von Adama Ullrich |
Zwei Drittel der Bevölkerung in Nigeria sind Jugendliche. Mangelnde Bildung, hohe Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven treiben die jungen Menschen in die Arme von Boko Haram – es sei denn, sie nehmen ihr Leben selbst in die Hand.
Etwa 500 Schüler stehen in Reih und Glied auf dem großen, sandigen Schulhof des Rochas Foundation College im Südosten Nigerias. Jeden Tag nach Schulschluss versammeln sie sich hier zum Appell. Die Rochas Foundation ist eine Nichtregierungsorganisation, die es Kindern aus sozial schwachen Familien ermöglicht, eine weiterführende Schule zu besuchen. Jugendlichen wie Ejinwa:
"Wir sind sieben Kinder zuhause. Sechs Jungs und ein Mädchen. Ich bin der Jüngste. Wir sind nicht reich. Wir haben nicht so viele Möglichkeiten, weiter zu kommen. Seit dem ich hier die Schule besuche, hat sich mein Leben verändert. Das hätte ich nie gedacht. Die Schule hat mich persönlich weitergebracht. Ich lerne ständig dazu."
Ejinwa Delight ist 17. Wie alle Schüler trägt der schlacksige, Jugendliche eine ordentliche blaue Schuluniform, weiße Socken und schwarze Sandalen. Gäbe es das Collage in Owerri nicht, hätten ihn seine Eltern nach der Grundschule, die nach sechs Jahren endet, nicht auf eine weiterführende Schule schicken können und er wäre auf der Straße gelandet.
"Ich glaube, die größten Probleme, die wir haben, sind Arbeitslosigkeit und dass viele nicht die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen. Manche werden kriminell. Einige, die einen Schulabschluss und eine feste Stelle haben, sind korrupt. Korruption ist ein großes Problem. Doch was wir am nötigsten brauchen, sind Schulbildung und Arbeitsplätze."
Ejinwa Delight möchte später Jura studieren und als Richter gegen korrupte Beamte vorgehen. Er weiß, was notwendig ist, damit die Jugend in Nigeria eine Zukunft hat.
"Bildung ist der Schlüssel zum Glück. Sonst wird man ignorant und kann nicht mehr logisch denken. Dann wird man womöglich kriminell. Darum rate ich unserem Land, den Politikern, alles zu tun, um Bildung auf allen Ebenen zu ermöglichen. Ich hoffe, dass dann die Anzahl der Dummköpfe sinkt."

In Nigeria sind zwei Drittel der Bevölkerung Jugendliche

Die Bedingungen an den staatlichen Schulen Nigerias sind schlecht: Marode Gebäude, kaum Lehrmaterialien, überfüllte Klassen, zu wenige Lehrer. Obwohl Grundschule und untere Sekundarstufe kostenfrei sind, können es sich viele Familien nicht leisten, ihre Kinder dahin zu schicken. Sie müssen für Transport, Schuluniformen, Lehrbücher und Mittagessen selbst aufkommen. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist der Andrang auf das Rochas Foundation Collage in Owerri so groß. 790 Jugendliche besuchen die Schule, bis zu 2000 Bewerber gibt es jedes Jahr. Carol Ochemba arbeitet hier als Beraterin.
"Wir bieten nicht nur freie Bildung, sondern auch kostenlose Snacks, täglich ein Mittagessen, kostenlose Schulbücher, Schuluniformen und Sandalen. Im Grunde genommen ist alles umsonst. Darum bewerben sich auch so viele. Wir müssen darauf achten, dass wirklich nur die Ärmsten der Armen angenommen werden."
Schulkinder beim Appell im Rochas College, Nigeria.
Schulkinder beim Appell im Rochas College, Nigeria.© Dlf Kultur (Adama Ullich)
Fünf Schulen betreibt die Rochas Foundation in verschiedenen Regionen Nigerias. Etwa 13.000 Kinder und Jugendliche aus sozial und wirtschaftlich schwachen Verhältnissen haben dadurch die Möglichkeit, einen höheren Schulabschluss zu erreichen. Ein Anfang, aber bei Weitem nicht genug.
Nigeria ist mit zirka 185 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Die Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren zwar stets zwischen vier und sieben Prozent gewachsen, doch mehr als 60 Prozent der Bevölkerung leben noch immer in extremer Armut. Laut einer Studie des British Council sind gut zwei Drittel der Bevölkerung Jugendliche. Knapp die Hälfte von ihnen ist arbeitslos.
"Unser Bildungssystem gehörte früher zu den besten der Welt. Doch dann ging alles den Bach runter. Als ich in der 70-ern auf’s Collage ging, war alles noch in Ordnung: Die Schulgebäude waren in einem guten Zustand, Schulbücher und Übungshefte gab es kostenlos. Unsere Lehrer waren Experten, die sogar selbst Lehrbücher veröffentlicht haben. Heute ist nichts mehr davon übrig, höchstens auf Privatschulen. Aber wer kann sich die leisten?"
Obi Adim sitzt in einem geräumigen Zimmer in seinem Apartment in Maitama, einem noblen Viertel in Nigerias Hauptstadt Abuja. Auch er ist in Owerri zur Schule gegangen und hat dort Wirtschaftspolitik studiert. Weil er in Nigeria keine Arbeit fand, ist Adim nach Südafrika gegangen, wo er als Geschäftsmann tätig war. 2013 hat es ihn in die Politik und nach Abuja, verschlagen.
"Ich war Spezialberater für Jugendfragen unseres vorherigen Präsidenten Goodluck Jonathan. Wir haben versucht, einen Rahmen und eine Grundlage für die Stärkung der Rechte der Jugend in Nigeria zu schaffen."
Goodluck Jonathan hat die Wahl im März 2015 verloren. Präsident wurde sein Kontrahent Muhammadu Buhari. Im Wahlkampf trat er dafür ein, hart gegen Korruption und Misswirtschaft vorzugehen. Bislang ist davon nicht viel zu spüren.
"Meiner Meinung nach haben schon die vorherigen Regierungen versagt. Ich meine, die seit den 70er Jahren an der Macht waren. Sie haben keine Grundlage geschaffen, um die Jugend voranzubringen. Wenn sie beispielsweise darin investiert hätten, dass Nigeria zu einem produzierenden Land wird, dann gäbe es heute auch mehr Arbeitsplätze. Aber das wurde nicht getan. Sie waren achtlos. Und jetzt finden die Universitätsabsolventen keine Arbeit."

"Als ich in den Dörfern im Norden war, kamen mir die Tränen"

Ende der 1950er Jahre wurden im Nigerdelta Ölquellen gefunden. Heute ist Nigeria der zwölftgrößte Ölproduzent der Welt und der mit Abstand größte Afrikas. Trotzdem müssen Benzin, Diesel und Kerosin importiert werden. Dem Land fehlen Raffinerien. Und so verhält es sich mit der gesamten Infrastruktur. Da so gut wie nichts im Land produziert wird, gibt es auch keine Arbeitsplätze. Es herrscht Korruption und Misswirtschaft. Obi Adim geht sogar soweit, diese Situation für die Entstehung der Terrororganisation Boko Haram mitverantwortlich zu machen, die im Nordosten Nigerias ihr Unwesen treibt. Zu traurigem Ruhm gelangten die islamistischen Terroristen als sie im April 2014 276 Schülerinnen entführten. Boko Haram bedeutet sinngemäß so viel wie "Bücher sind Sünde".
"Ich bin viel gereist. Als ich in den Dörfern im Norden war, kamen mir die Tränen. Die jungen Leute stehen morgens auf und haben nichts zu tun. Es gibt keine Jobs, nichts. Ich glaube, darum ist Boko Haram dort so verbreitet. Was erwartet man von einem 14jährigen, der absolut nichts zu tun hat? Diese Leere wurde von den Fundamentalisten ausgenutzt. Man sagt ja, 'Müßiggang ist aller Laster Anfang'. Darum konnten sie die jungen Männer so manipulieren, dass sie zu ihnen gekommen sind."
Auf der einen Seite rekrutiert Boko Haram unzufriedene Jugendliche, auf der anderen Seite gibt es auch junge Nigerianer, die jede Hoffnung auf Unterstützung der Regierung verloren haben, aber nicht kapitulieren. Sie nehmen ihr Leben selbst in die Hand.
"Willkommen auf der Alazy Jam Farm, meiner kleinen Gemüsefarm. Gleich hier wachsen die Kürbisblätter, auch bekannt als Ogo-Blätter."
Nkiruka Nnaemego, 34, ist eine kleine, quirlige junge Frau, die stolz ein lila Poloshirt trägt, auf dem Y-Farm steht. Zufrieden schaut sie über ihre Felder. Seit drei Jahren baut sie Getreide und Gemüse an. Sie beschäftigt vier Landarbeiter und David, den Farmmanager.
"Hier wachsen Kürbisse und dort Spinat. Es beginnt gerade eine neue Aussaatphase. Wir haben ein paar neue Setzlinge eingepflanzt, die bereits gut gekommen sind. Und hier stehen Kassava und Paprika. Dort drüben sind unsere Cashewbäume. Wenn die Regenzeit beginnt, pflanzen wir Korn an. Im Stall haben wir Hühner, Ziegen und Lämmer."
Nkiruka Nnaemego auf der Y-Farm.
Nkiruka Nnaemego auf der Y-Farm. © Dlf Kultur (Adama Ullrich)
Bislang verkauft Nkiruka Nnaemego ihre Produkte auf kleinen Märkten in Abuja, der Hauptstadt Nigerias. Die Leute freuen sich über das frische Gemüse. Darüber hinaus möchte sie ihre Waren aber auch selbst verarbeiten und vermarkten. Momentan lässt sie frischen Ingwer zu Pulver mahlen und verpacken. Dafür hat sie schon Abnehmer aus verschiedenen Städten Nigerias gefunden. Als nächstes möchte sie ihre Chashewnüsse selbst rösten und vermarkten.

Landwirtschaft als Ausweg?

In den 1960-er Jahren bestanden noch 85 Prozent des Außenhandels aus Forst- und Landwirtschaft. Hauptexportprodukte waren Kakao, Palmöl, Erdnüsse, Bananen und Baumwolle. Durch den Ölboom geriet die Landwirtschaft immer mehr in Vergessenheit. Dagegen kämpft Nkiruka Nnaemego an. 2014 hat sie das Projekt Y-Farm ins Leben gerufen.
"Y-Farm hat zwei Bedeutungen: Zum einen Youth Farm, Jugendfarm. Zum anderen soll es die Frage aufwerfen why, also warum junge Leute in der Landwirtschaft arbeiten sollten."
Eine gute Frage, auf die Nkiruka auch gleich eine Antwort parat hat.
"Als ich mal ein Foto von mir auf meiner Farm auf Facebook geposted habe, hat jemand geschrieben: ‘Du siehst viel zu gut aus, um auf dem Land zu arbeiten.’ Das ist genau die falsche Vorstellung, die die Leute haben. Für viele ist Landwirtschaft eine Strafarbeit. Sie sagen zu ihren Kindern: Wenn du nicht gut in der Schule bist, wirst du auf einer Farm enden."
Mit diesem Vorurteil will Nkiruka aufräumen. Wenn sie nicht auf dem Feld arbeitet, sitzt die 34-Jährige in einem engen Büro im Abiola Haus in Abuja. Hier hat sie 2008 eine Plattform für Jugendliche und junge Erwachsene gegründet: "Fresh & Young Brains Development Initiative", kurz FBI. Da war sie 25 Jahre alt.
"Es gibt viele Jugendliche, die kein Selbstvertrauen haben, weil die Gesellschaft ihnen mit Desinteresse begegnet. Die meisten glauben nicht an junge Menschen. Das ist eines der größten Probleme und Missverständnisse, dass die Jugendlichen keinen Fokus haben, dass sie nicht zu begeistern sind, dass man sie für alles benutzen kann."

Ein Jugend-Landwirtschafts-Festival in Abuja

In Zusammenarbeit mit dem Landwirtschaftsministerium und Oxfam Nigeria hat Nkiruka 2015 in Abuja das erste Jugend-Landwirtschafts-Festival organisiert. Die jungen Leute sollten sehen, dass sie auf dem Land auch Chancen haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und nicht in die großen Städte gehen, wo sie sich als Tagelöhner oder Straßenverkäufer verdingen müssen.
"Wir wollten eine Plattform für junge Leute schaffen, die auf dem Land arbeiten. Sie konnten sich bewerben. Wir haben nach Leuten gesucht, die mit kleinen landwirtschaftlichen Betrieben angefangen und es geschafft haben. Wir wollten von ihnen wissen, wie sie das gemacht haben. Nach diesen Kriterien haben wir dann die Teilnehmer ausgewählt."
Nkiruka Nnaemego und Mitarbeiter auf der Y-Farm.
Nkiruka Nnaemego und Mitarbeiter auf der Y-Farm. © Dlf Kultur (Agama Ullrich)
Nkiruka ist zuversichtlich, dass sich ihre Bemühungen lohnen. Außer den jährlich stattfindenden Festivals, besuchen die Mitglieder von Y-Farm auch Schulen, um über ihre Erfahrungen zu berichten.
"In Schulen organisieren wir Ausbildungscamps für Agrarindustrie. Wir halten Vorträge über die Bedeutung von Werteketten in der Landwirtschaft und besuchen mit den Schülern unsere Farmen. Dort können sie mit eigenen Augen sehen, wie klein wir einmal angefangen haben und was daraus schon geworden ist."
Nkiruka läuft auf ihrer Farm in der Nähe von Abuja über den trockenen, hügeligen Boden. Es wird Zeit, dass es regnet, meint sie, sonst vertrocknet das ganze Gemüse. Obwohl sie schon viel erreicht hat, würde sie sich wünschen, dass die Regierung junge Leute, die selbst was auf die Beine stellen, endlich unterstützt.
"Wir haben nicht genug Geld, um das ganze Land zu kaufen. Darum pachten wir es. Das hier haben wir Ende vorigen Jahres gepachtet. Jetzt suchen wir noch nach Möglichkeiten, um die Gemeinde dazu zu bewegen, uns mehr Land zu geben, denn wir wollen uns weiter vergrößern und uns von einer kleinen Farm zu einem richtigen landwirtschaftlichen Betrieb entwickeln."
Mehr zum Thema