Bildung

Schule - nein danke

Zwei Stapel mit Abschluss-Zeugnissen liegen auf einem Tisch.
Abschlusszeugnis © picture alliance / dpa / Stefan Hähnsen
Von Franziska Rattei und Susanne Arlt |
Jedes Kind hat das Potenzial zum Schulabschluss, sind sich die Pädagogen zweier Förderprojekte in Bremen und Berlin sicher. Die "Reisende Werkschule Scholen" und das Jugenddorf Berlin setzen auf einen hohen Praxisbezug.
In einer alten Scheune hieven drei Halbstarke Sperrmüll auf einen Anhänger: Kartonagen, ein paar ausgediente Möbel und eine schwere Eisentür. Ein Mann in sandfarbenem Overall und Käppi auf dem kahlen Kopf steht lächelnd daneben:
"So, Jungs, jetzt den mal so schieben, dass der da ran passt ... "
Michael von Studnitz, pädagogischer Leiter der "Reisenden Werkschule Scholen". Vor mehr als 30 Jahren gründete er mit ein paar anderen 68-ern das Schulprojekt für sogenannte "Schulmeider" - so der Fachbegriff für Jugendliche, die sich weigern zu lernen oder gar nicht mehr zur Schule gehen.
"Oh, der Hänger ist platt."
"Ja?"
"Das wars. Der Hänger ist platt. Ja dann hol doch mal den Kompressor ..."
So war die heutige Praxisgruppe "Müll" eigentlich nicht geplant. Die drei Jugendlichen hätten den Sperrmüll auf einen Recyclinghof bringen sollen. Stattdessen montieren sie jetzt den Platten des Hängers ab:
"Wie man einen Wasserhahn aufdreht. Weißt du, wie ich meine? Kriegst du die Richtung hin von den Rädern? Dann könnt Ihr das nämlich eben alleine. Und das Lösen der Räder, während er noch unten steht. Und dann, sobald die Räder locker sind, hochpumpen."
Fast alle Schulmeider sind praktisch begabt

Michael von Studnitz gibt ein paar Tipps, ansonsten lässt er die Jungs einfach mal machen. Fast alle Schulmeider sind praktisch sehr begabt, sagt er. Dieses Talent nutzt die "Reisende Werkschule Scholen":
Ein Mann wirft auf dem Recyclinghof Kunststoff in einen Sammelbehälter.
Die Bremer Schüler arbeiten gerne in der Müllgruppe.© dpa picture alliance/ Patrick Seeger
"Die meisten Jugendlichen sind ja hier, weil sie überhaupt keine Lust zur Schule haben; manche auch, weil sie die Hoffnung aufgegeben haben, dass sie was lernen können. Aber es ist auch so, dass fast alle Jugendlichen - nahezu ausnahmslos - Lust auf praktische Arbeiten haben. Und wir haben mal so eine Statistik gemacht: Die haben alle immer Lust in die Müllgruppe zu gehen. Ich wunder mich selbst. Wahrscheinlich, weil sie so einfach und leicht ist, sie ist nicht ernst."
In jeder Praxisgruppe lernen die Jugendlichen, dass sie etwas Sinnvolles leisten können, sagt von Studnitz; ganz egal, ob sie den Garten pflegen, kochen, selbst Möbel bauen oder eben Müll abtransportieren. Dieses Gefühl, etwas zu können, ist vielen von ihnen abhanden gekommen. Über gute Schulnoten konnten sie sich nicht mehr beweisen. Andere Aufmerksamkeit zogen sie nur mehr im negativen Sinne auf sich. So jedenfalls beschreibt es Pascal. Der 17-Jährige geht an Krücken - ein Bänderriss. Aber statt herumzusitzen hilft er lieber bei der Müllgruppe mit; so gut es eben geht. Er lebt seit fast zwei Jahren in Scholen.
"Ja, also einerseits musste ich ja auch hierher kommen, 'ne. Ist vom Gericht gewesen. Sonst wär ich woanders hingekommen. Eigentlich wollte ich hier auch gar nicht hin. Hier hat man ja ein Vorstellungsgespräch. Und da habe ich gesagt: Dass ich hier sowieso nicht einziehe, blablabla. Und dann haben sie gesagt: Dann machen wir gleich hier Schluss. Und dann hatte ich halt 'ne Gerichtsverhandlung, und dann meinte der Richter halt, dass ich hier hinziehen muss oder halt sechs Monate in Haft gehen muss. Und dann hab ich mir das noch mal angeguckt, und dann bin ich hier eingezogen. Waren die Leute auch cool drauf, und so. Ja, und dann war ich ganz zufrieden hier mit. Hab ich gedacht: Das zieh ich jetzt durch, 'ne."
Noch zwei Monate, dann ist Pascals Zeit in Scholen vorbei. Hier hat er sich stark verändert, sagt er. Früher hat er eigentlich nichts gemacht. Abgehangen, Drogen genommen. Jetzt kann er sich an Termine halten, er hat putzen und kochen gelernt und kann vieles im Haushalt reparieren. Wenn Pascal Scholen verlässt, wird er in eine betreute WG ziehen und ein berufsvorbereitendes Jahr beginnen. Eigentlich wünscht er sich einen Ausbildungsplatz für eine Dachdeckerlehre. Den hat er zwar noch nicht bekommen, aber seinen Abschluss hat er in der Tasche.
Ein Drittel wird erfolgreich, ein Drittel fällt durch
Ohne Scholen wäre das nicht möglich gewesen - Michael von Studnitz weiß das aus 35 Jahren Erfahrung. Wie es nach Scholen weitergeht, ist unterschiedlich:
"Wenn wir dann sozusagen den weiteren Verlauf gucken, ist es sozusagen Drittel, Drittel, Drittel. Ein Drittel startet richtig durch. Wir haben jetzt zum Beispiel eine Frau, die ist Psychologin in Amerika, die hat Abitur gemacht, die machen Lehren. Dann haben wir das zweite Drittel, die machen eine prekäre Karriere insofern: Job - Nicht-Job. Aber sie werden nicht kriminell, drogensüchtig. Das heißt, sie sind neutral, kostenmäßig neutral. Und das eine Drittel können wir in der Regel nicht retten. Das heißt, das ist ein relativ guter Erfolg, weil keiner ohne Abschluss hätte irgendwie eine Chance, Geld zu verdienen."
Der Erfolg von Scholen hat mehrere Ursachen. Zum einen die ländliche Lage - in der Stadt wären die Jugendlichen viel schneller abgelenkt, sagt der Pädagoge. Hier können sie weniger Unsinn machen. Und wenn doch, melden es die Bewohner des 400-Seelen-Ortes schnell. Dazu kommt die gute Betreuungssituation - unter der Woche rund um die Uhr, in Einzelfällen auch am Wochenende.
In den Praxisgruppen kümmert sich ein Pädagoge um maximal drei Jugendliche, im Unterricht ist ein Lehrer für höchstens sechs Jugendliche da. Und die strenge Tagesstruktur hilft, wieder einen Rhythmus zu finden. Acht Uhr Wecken, danach Putzen, Unterricht, Praxisgruppen, Sport - bis in den frühen Abend hinein ist man beschäftigt. Und nur sechs Wochen Ferien pro Jahr:
"Tschüss, wir fahren jetzt zur Tankstelle, flicken den Reifen. Einsteigen!"
Ila konnte sich keinen ganzen Schultag konzentrieren
Die meisten Jugendlichen, die in Scholen leben, sind junge Männer. Aber der weibliche Anteil wächst. Inzwischen sind meist drei oder vier junge Frauen unter den 18 Projektteilnehmern; eine von ihnen ist Ila:
"Ok, also einfach alles ordentlich aus-cutten. Und zur Arbeitsweise ..."
Zusammen mit zwei anderen Jugendlichen und einem Pädagogen, der auch gelernter Tischler ist, sitzt die 17-Jährige in einem Werkraum beim sogenannten "Kreativen Gestalten". Vor Ila liegt eine Totenkopf-Schablone. Mit einem Teppichmesser bringt sie die Umrisse auf eine harte Unterlage. Die wird sie später benutzen, um den Totenkopf auf eine Jute-Tasche zu drucken. Geduldsarbeit. Aber wenn sie etwas will, kann sie sehr ehrgeizig sein, sagt Ila. Bis vor einem guten Jahr allerdings wollte sie eigentlich nichts:
"Von acht war ich dann so bis elf in der Schule, dann bin ich nach Hause gegangen, hab' mir meine Decke und mein Kopfkissen geholt, bin dann ins Wohnzimmer und hab' Fernsehen geguckt. Meistens hab ich mir Trinken und ein bisschen was zu Essen mitgenommen, damit ich nicht aufstehen muss. Ja, ganz selten bin ich auch aufgestanden. Wenn ich auf Toilette oder so musste. Halt so."
Einen ganzen Schultag lang konnte sich die 17-Jährige nicht konzentrieren. Oft ist sie vor Unterrichtsende nach Hause gegangen. Wenn Ila über ihre Vergangenheit spricht, klingt das, als erzählt sie die Geschichte einer Fremden. Sie lächelt dabei. Große Augen, lange Wimpern.
Ilas Mutter lächelt überhaupt nicht, wenn sie an diese Zeit denkt. Es ist früh am Nachmittag. Simone Broda ist gerade erst nach Hause gekommen von der Arbeit. Sie ist dabei, das gespülte Geschirr in den Küchenschrank zu räumen. Vormittags macht sie in einer Kneipe sauber:
"Also für mich war's sehr schlimm. Sie hatte damals die falschen Freunde und hat viel Alkohol zu sich genommen, und ich bin gar nicht mehr rangekommen, und dann bin ich halt mit zum Jugendamt, hab mich beraten lassen und hab' auch gesagt: Ich komm' nicht an sie ran, sie haut nachts ab. Ich kann zehnmal sagen: Du bleibst zu Hause! Sie geht einfach. Da musste irgendwas passieren."
Scholen war Ilas Rettung, sagt Simone Broda heute. Ihre Tochter hat sich verändert, seitdem sie dort wohnt. Vor allem die Reisen ins Ausland haben sie geprägt - darauf baut die "Reisende Werkschule Scholen". Die Jugendlichen verlassen Deutschland regelmäßig. Die längste Reise führt sie ins afrikanische Malawi. Zwei Monate lang arbeiten die ehemaligen Schulmeider dort als Entwicklungshelfer. Zusammen mit Einheimischen bauen sie Grundschulen - ohne Maschinen, nur mit der eigenen Muskelkraft. Den halben Tag verbringen sie auf dem Bau, zum Teil bei mehr als 40 Grad Hitze. Ila hat das durchgezogen, sagt ihre Mutter stolz. Und die Erfahrung wirkt noch immer nach:
"Also früher hat sie kein Mitleid gehabt mit irgendjemandem. Also, wenn sich Kinder auf die Nase gelegt haben, hat sie noch gelacht und immer so: selber Schuld, soll die Füße hochheben. Oder wenn sie Geld hatte: wie das halt so ist, immer gleich los und am besten gleich alles weg. Und wenn sie heute Geld hat, dann fragt sie. Brauchst du was? - fragt sie mich. Oder: Dann geh ich mit ihr mal nach Müller oder DM oder was weiß ich, und dann hat die den Arm voll mit Sachen. Und bis wir wieder an der Kasse sind, hat sie alles wieder weggepackt. Mama, das brauch' ich nicht. Also seitdem macht sie sich viel mehr Gedanken auch."
In Malawi erleben die Jugendlichen, dass Glück nicht materiell ist, was Bildung anderen bedeutet und mit wie viel Überfluss und Reichtum sie in Deutschland leben. Außerdem beweisen sie sich, was sie fähig sind zu leisten, wenn sie es wollen.
Dezimalzahlen üben in vielen kleinen Schritten
"Habt Ihr das, das ist, glaube ich, habt Ihr gesehen? Noch nicht klar? Schau Du einfach mal weiter zu und lass Dich einfach mal berieseln, weil man das öfter macht. Wir kommen noch drauf zurück. Bei Dir? War das Dir jetzt klar?"
Die drei Schüler, die in Scholen gerade im Unterricht sitzen, müssen noch eine Weile durchhalten, bis zu ihrer Abschlussfahrt nach Afrika. Peter Thebud, ihr Mathelehrer, übt mit den Jungs, Brüche in Dezimalzahlen umzuwandeln. In kleinen Schritten, mit viel Geduld und Ernsthaftigkeit:
"Wichtig ist dabei natürlich auch immer, deswegen ist Mathe halt auch so unangenehm - man muss üben, üben, üben. Das ist einfach nun mal so. Geht übrigens auch allen so. Wenn ich das nicht übe, kann ich das auch nicht. Es ist wirklich so."
Der Unterricht findet in einem kleinen Fachwerkhaus im Garten statt. Die Tür ins Freie steht offen. Die Ausstattung ist einfach. Holztische und -stühle für Schüler und Lehrer und eine Tafel. Komplizierte Technik schreckt viele ab, sagt Thebud. Seine Schüler sollen sich trauen, etwas anzuschreiben, Fehler vor anderen zu machen und dann daraus zu lernen. Kein Vergleich zum Unterricht in der "normalen Schule" sagt Yigit. Der 14-Jährige lümmelt hinter seinem Tisch:
"Also damals, da hab' ich gar nicht richtig Unterricht mitgemacht. Da war ich immer abgelenkt. Oder - keine Ahnung. Ich konnte nicht mitmachen, weil ich hab' die Sachen da nicht verstanden. Und hier versteh' ich das ein bisschen besser, 'ne. Also hier mach' ich schon mehr mit als früher, in meiner alten Schule. Ja."
Kein Wunder. Yigits früherer Mathelehrer hatte keine Zeit, sich auf jeden einzelnen seiner 30 Schüler einzulassen. Die direkte Ansprache fehlte, irgendwann ist Yigit einfach durchs Raster gerutscht. Solche Geschichten hört Peter Thebud oft. Die Jugendlichen, die hier sitzen, sind nicht alle Draufgänger; auf Krawall gebürstet. Manche sind sogar genau das Gegenteil. Ruhig, schüchtern, in sich gekehrt und deshalb in der Schule zu wenig beachtet:
"Was hier der Anspruch ist oder anspruchsvoll ist: Ich muss immer wirklich zwischen den Schülern hin- und herschalten - immer bereit sein, wenn eine Frage kommt. Weil es ist hier ganz entscheidend, dass der Schüler die Aufmerksamkeit zu dem Problem auch gleich bekommt. Weil: in der Regel ist das so, wenn man vom Tisch weggeht vom Schüler, ist der schon gleich wieder verloren."
Auch Yigit muss sich zusammenreißen, um nicht abzuschweifen. Während er auf das Arbeitsblatt vor sich blickt, liegt seine rechte Hand auf einem Schreibblock daneben. Yigit ist Künstler, und er kann es kaum abwarten, an seinem neuesten Text weiterzuarbeiten. Nach dem Unterricht, während die anderen Jungs quatschen oder rauchen, übt er schon mal in einer ruhigen Ecke:
"Yeah. Heute rappe ich über die reisende Werkschule, damals dachte ich, diese Scheiße wär' für Schwule. Doch ich habe begriffen, dass ich lernen muss, für ein besseres Leben, für einen Schulabschluss. In meiner alten Schule habe ich fast nie aufgepasst, ja, diese Zeit von früher, ja, sie war echt krass, heute bin ich hier, und habe ein Interview, heute denke ich ganz anders, ja, Schule ist cool."
Berufe erleben in der Schulzeit – Lernen mit "Schildkröte" in Berlin
Eine Frau lässt sich beim Frisör die Haare waschen.
In Berlin lernen die Schülerinnen unter anderem das Frisörhandwerk kennen.© dpa picture alliance/ Ralf Hirschberger
"Frau Nischan wo sind unsere Karten? ... Kundenkarten? ... Die sind nicht dort."
Die Friseurwerkstatt liegt im ersten Stock. Das Klassenzimmer ist zugleich praktische Lehrstätte. An der Wand hängen drei Spiegel, davor steht ein runder Waschtisch. Daneben liegen auf einem Hocker Lockenwickler, Schere und ein Fön. Der Unterricht im Fach Friseur und Körperpflege beginnt eigentlich pünktlich um 10 Uhr 30. Doch im Moment sitzen erst zwei der insgesamt sieben Schülerinnen auf ihren Plätzen. Ausbilderin Steffi Nischan nimmt es gelassen. Statt die sechs Nachzüglerinnen zu tadeln, versucht sie es lieber mit guten Argumenten. In wenigen Tagen finden schließlich die Prüfungen statt. In Theorie und Praxis, betont sie mit Nachdruck:
"Ich möchte anfangen, das geht alles von Eurer Zeit ab ... Ihr werdet ne Matheaufgabe auch in der Modulprüfung haben und ich möchte, dass die bitte jeder von Euch versucht! Deswegen mache ich mit Euch jetzt noch einmal Mathe, damit Ihr da noch einmal reinfindet ... und ich nicht möchte, dass Ihr da Fünfen und Sechsen schreibt, das ist mein Ziel, deswegen mache ich das (ein Handy klingelt) ... das war nicht meins ... so können wir anfangen? ... Ja ... okay."
Um zehn nach halb sitzen die 16-Jährigen endlich auf ihren Stühlen. Alle Mädchen tragen rote Polo-Shirts, es ist ihre Arbeitskleidung. Seit zwei Jahren nehmen die Schülerinnen nicht mehr regelmäßig am Schulunterricht in ihrer Sekundarschule teil. Stattdessen besuchen sie an drei Tagen in der Woche die Werkstätten des Bildungsträgers "Schildkröte" in Berlin-Kreuzberg. Dort lernen sie unterschiedliche Berufe kennen und fangen an zu begreifen, warum Mathe und Grammatik auch fürs spätere Leben wichtig sind. Steffi Nischan zeigt auf die Tafel. Dort sind die einzelnen Posten aufgelistet, um einen Friseursalon zu betreiben: Sachkosten, Personalkosten, Betriebskosten. Hausausgabe war, die Gesamtkosten zusammenzurechnen:
"Papier rauskramen"
"Ich hatte 50.232,23 Cent"
"Und hast du auch einen Antwortsatz dazu?"
"Nein, bin ich gar nicht zu gekommen"
"Was sagte ich, wenn wir Textaufgaben haben, antwortet auch bitte immer mit einem Antwortsatz. ... die Gesamtkosten ..."
Die Schülerin trägt das Ergebnis noch einmal vor, diesmal antwortet sie in einem ganzen Satz, Ausbilderin Nitsch nickt zufrieden. Dann wird es komplizierter. 42.320 Euro wurden für die Personalkosten ausgegeben, sagt Steffi Nitsch:
"Und jetzt ist die Frage, wie viel Prozent das vom Gesamtbetrag ist? Wie kann ich da rechnen, was ist das für eine Rechnung?"
"Durch Dreisatz?"
"Durch den Dreisatz, richtig! Komm mal ran, schreib mal auf."
Dreisatzrechnung - für die meisten Mädchen war Mathe früher oft ein Buch mit sieben Siegeln. Jetzt fällt ihnen sogar die Prozentrechnung leicht. Geholfen hat ihnen der praxisbezogene Unterricht, glaubt Steffi Nitsch. Eine Dreisatzrechnung bekommt plötzlich einen Sinn. Mit ihrem normalen Schulalltag kamen die Mädchen dagegen nicht mehr zurecht. Ihre Noten wurden immer schlechter, viele von ihnen haben darum auch die Schule geschwänzt. Die 16-Jährige Maria Egglezo kam in der siebten Klasse in nur einem halben Schuljahr auf 98 Fehltage. Erst habe ein Freund sie dazu angestachelt und dann habe sie ihre Freundin Tatjana mit reingezogen, erzählt sie:
"Wir hatten null Bock auf die Schule. Weil, wenn man einmal den Faden verloren hat, dann hat man ja keine Motivation mehr. Wenn man von Anfang an schlechte Noten bekommt, also man ist dann nicht motiviert dabei, sich gute Noten zu holen, man strengt sich auch nicht an und meistens bin ich immer zur letzten Stunde reingegangen und wurde dann wieder rausgeworfen."
Maria hat verstanden: ohne Abschluss keinen Ausbildungsplatz
Inzwischen passiert ihr das nicht mehr. Sie und ihre Freundin Tatjana besuchen regelmäßig die Praxislerngruppe. Das habe aber weniger mit der praxisorientierten Form des Lernens zu tun, sagt Maria. Ihr macht der Unterricht in dem Bereich Friseur und Kosmetik keinen Spaß. Aber ihre Haltung zur Schule habe sich in den vergangenen zwei Jahren geändert. Und ohne einen Schulabschluss gibt es auch keinen Ausbildungsplatz. Ihre Freundin Tatjana sieht das anders. Durch den praxisbezogenen Unterricht habe sie wieder Lust am Lernen, sagt die 16-Jährige.
"Unterricht ist nichts für mich so. Deutsch, Mathe, Englisch. Da sitzt man die ganze Zeit ständig rum und muss den Lehrern zuhören und irgendwas schreiben. Und hier ist man halt körperlich auch aktiv, also wir lernen hier, wie man zum Beispiel Betten bezieht."
An drei Tagen sind die beiden Schülerinnen in den Werkstätten, an zwei Tagen in der Lerngruppe ihrer Sekundarschule. Diese Schulklassen wurden extra für die Jugendlichen eingerichtet, die an dem Projekt teilnehmen. Der Vorteil: Die Klassengröße ist begrenzt. In der Regel muss sich ein Lehrer um nur fünfzehn Schülerinnen und Schüler kümmern. Die Betreuung ist viel intensiver, das stärkt auch den Zusammenhalt. In der Lerngruppe der Sekundarschule pauken die Jugendlichen die regulären Schulfächer wie Deutsch, Mathe, Englisch, Naturwissenschaften, Ethik, Kunst oder Sport.
Aber auch im Praxisunterricht werden die Grundfächer unterrichtet, betont Yvonne Schaale vom Bildungsträger Schildkröte. Denn nach der zehnten Klasse müssen auch ihre Schüler die Prüfungen für die erweiterte Berufsbildungsreife, vergleichbar mit dem erweiterten Hauptschulabschluss, bestehen. Schaffen sie es nicht, haben sie auch keinen Schulabschluss in der Tasche. Und mit genau dieser Prognose kommen die Schüler nach der siebten Klasse zu uns, sagt Yvonne Schaale. Schülerinnen wie Maria und Tatjana:
"Was ich immer traurig finde, ist, dass wenn Kinder, die sich nicht so schnell entwickeln wie andere, dass die in einem großen Rahmen untergehen. Und wenn man sich aber ein bisschen intensiver um sie kümmert, dass sie dann durchaus einen guten Weg einschlagen können fürs Leben. Und diese Kontinuität, die dieses Programm bietet, nämlich zwei Jahre mit den Schülern zu arbeiten, sehe ich als reelle Chance für sie, ihren Lebensweg zu meistern."
Auf dem Weg dahin wurden Maria und Tatjana auch von den Sozialpädagogen der "Schildkröte" unterstützt. Die enge Zusammenarbeit zwischen Schülern, Ausbildern und Lehrern zeigt Erfolg. Beide Mädchen haben ihren Schulabschluss so gut wie in der Tasche. Und Maria beginnt im September ihre Ausbildung bei einer Rechtsanwaltskanzlei.
Schulversagen kann etwa an falschem Angebot liegen oder der Familie
Die Schule am Schloss liegt nicht weit entfernt vom Schloss Charlottenburg. Früher stand hier der königliche Marstall, heute residiert die integrierte Sekundarschule in dem prachtvollen Backsteinbau. Wer hier die Schulbank drückt, kann alle Abschlüsse inklusive Abitur erreichen. Vorausgesetzt die Noten stimmen.
Der Unterrichtsraum der Praxislerngruppe liegt im ersten Stock. Je 15 Schülerinnen und Schüler aus der neunten und zehnten Klasse besuchen abwechselnd den Unterricht. Für die Praxislerngruppe kommen nur Jugendliche in Betracht, von denen wir den Eindruck haben, dass sie bei gleichbleibenden Leistungen ihren Schulabschluss nach der Zehnten nicht schaffen werden, sagt Schulleiter Thorsten Pfaff:
"Das kann die verschiedensten Ursachen haben. Das kann sein, dass ein schulisches Angebot schlicht falsch ist. Dass kann sein, dass eine Schülerin, ein Schüler große familiäre Probleme hat, vielleicht in Folge dessen auch nicht kommt. Sagt nicht so sehr viel über das Potenzial aus."
Jedes Kind hat ein Potenzial, soviel ist sicher. Aber nicht jedes von ihnen kommt mit dem regulären Schulangebot klar. Dieser Schulbetrieb bildet ihre Talente nicht ab. Die Praxislerngruppe kann da eine gute Alternative zur regulären Schullaufbahn sein, ist der Schulleiter überzeugt. Denn die Schülerinnen und Schüler hätten im Praxislernen plötzlich Erfolg, den sie in der Schule so schon lange nicht mehr hätten, so Pfaff:
"Und über diesen Erfolg entsteht Motivation. Das wissen wir alle. Wenn ich also Erfolg erziele in der Praxis, dann kann das sein, dass ich also auch entdecke, dass ich möglicherweise auch nicht überall in der Schule erfolglos sein muss, sondern dass durchaus ich auch Stärken habe im schulischen Bereich. Es kann sogar sein, dass ich entdecke, dass ich für bestimmte Berufe womöglich Mathematik brauche. Und es kann also sein, dass ich einen Sinn erkenne, in dem was ich da tue."
Im Regelunterricht hatte Dennis vor allem eins: Misserfolg
Dennis Gehrke hat erst still zugehört, nickt dann heftig mit dem Kopf. Vor zweieinhalb Jahren lag ihm dieser Sinn noch fern. Ein Schulabschluss lag in weiter Ferne. Und sein Selbstvertrauen lag brach. Der damals 14-Jährige kam im Unterricht nicht mehr mit. Also schwänzte er die Schule. Stand morgens auf, packte sein Schulbrot in den Rucksack, verabschiedet sich von seiner Mutter und ging dann statt zur Schule lieber mit den Kumpels chillen. Denn im Regelunterricht hatte Dennis vor allem eins: Misserfolg:
"Du siehst da, die kriegen 'ne eins, die kriegen 'ne zwei, die kriegen 'ne drei und du kriegst eine sechs verpasst. Ja, das ist nicht so schön. Dann sitzt du da halt, wirst Depri und hast dann halt keine Lust mehr auf Schule. Und dann machst du deinen Kopf zu und sagst okay, gehe ich nach Hause und mache was anderes."
Den Lehrern fiel sein Verhalten natürlich auf. Darum schlugen sie ihn für das Praxisprojekt vor. Anfangs war er skeptisch, fühlte sich abgeschoben. Die Lehrer führten mit ihm und seinen Eltern ausführliche Gespräche. Beim Bildungsträger gab es Schnuppertage. Schließlich war Dennis überzeugt: Das praxisorientierte Lernen ist das richtige für ihn. Nur wer ernsthaftes Interesse zeigt, sollte an der Lerngruppe teilnehmen. Dennis Gehrke hat inzwischen zahlreiche Berufe kennengelernt: Koch, Maler, Metaller. Am besten gefällt ihm das Schrauben in der Fahrradwerkstatt:
"Dieser Wechsel, glaube ich, zwischen Schule und Praxis. Ich glaube, dass ist so der angenehme Teil, den du da hast. Du sitzt nicht eine Woche lang auf einem kalten Stuhl, kannst dich auch mal bewegen beim Kochen oder beim Fahrrad rumschrauben, das ist ein genialer Unterschied auf jeden Fall."
Thomas Weber ist sein Klassenlehrer. Er und seine Kollegin Ellen Dewitz kümmern sich um die Schüler aus der Praxislerngruppe. Die beiden bezeichnen sich als Überzeugungstäter. Wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir an den Jugendlichen dran bleiben, sagt Weber. Im normalen Schulbetrieb sei das nicht möglich. Doch nur wenn er die Probleme seiner Schüler kenne, könne er ihnen auch helfen, sagt Weber:
"In der Praxisklasse kann ich mich als Lehrer viel mehr verwirklichen als im Regelunterricht. Schon allein deswegen, weil die Klassen etwas kleiner sind. Man kann sich individueller viel mehr auf die Schüler einstellen."
Dennis' Schulabschluss steht heute nichts mehr im Weg. In wenigen Wochen hat er seinen Realschulabschluss in der Tasche. Was danach kommt, weiß er noch nicht. Ob Ausbildung oder Abitur: Ihm stehen alle Wege offen. Ohne die Praxislerngruppe wäre er nie soweit gekommen, ist sich der 16-Jährige sicher. Ihm sei damals eine Hand gereicht worden und heute sei er froh, dass er sie ergriffen habe, sagt er und lächelt stolz.